Vier im roten Kreis

Vier im roten Kreis

Von Michael Hille

Wann immer Cineasten sich über VIER IM ROTEN KREIS austauschen, so wird vor allem eine Szene hervorgehoben: der legendäre Einbruch in einen Juwelier, auf den die Handlung die längste Zeit zugesteuert ist. Von diesem Job hat der inhaftierte Corey am Tag seiner Freilassung von einem Gefängniswächter erfahren, und als er kurz darauf unter ungewöhnlichen Umständen den Kriminellen Vogel kennenlernt, der seinerseits erst wenige Stunden zuvor den Fängen des Kommissars Mattel entwischt ist, hat er diesen direkt in sein Vorhaben eingeweiht. Zu Dritt müssen sie für die Durchführung ihres Plans aber sein, also heuern beide noch einen Scharfschützen an, den Ex-Polizisten Jansen.

Bis es zum großen Coup kommt, ist ein Großteil der 140minütigen Erzählzeit schon verstrichen. Jean-Pierre Melville, einer der größten Autorenfilmer in der Geschichte Frankreichs, war nie dafür bekannt, seine Figuren zu hetzen. Er führt sie in VIER IM ROTEN KREIS langsam ein und zueinander. So flüchtet Italowestern-Star Gian Maria Volonté erstmal eine ganze Weile vor der Polizei quer durch den Wald, ehe er bei seiner Flucht in einem willkürlich gewählten Kofferraum auf dem Parkplatz einer Raststätte Zuflucht sucht. Es handelt sich um den Wagen, den Corey an eben jenem Tag gerade erst gekauft hat. Zuvor hat er seinen ehemaligen Verbrecher-Boss, der mittlerweile mit Coreys Ex-Freundin schläft, um einige große Scheinchen erleichtert und bei einer Konfrontation mit zwei Schlägertypen einen der beiden versehentlich getötet.

Corey weiß von dem Mann in seinem Kofferraum und lässt ihn auf einem Feld aussteigen. Ohne große Worte erkennen die beiden Gangster im jeweils anderen einen Gleichgesinnten. Corey wirft Vogel seine Zigarettenschachtel zu, gemeinsam rauchen sie. Die Kamera schaut mit distanziertem Blick auf diese frisch entstandene Verbindung. Melvilles Kino zeichnete sich schon in seinen früheren Gangsterfilmen, darunter Klassiker wie DER TEUFEL MIT DER WEISSEN WESTE und DER ZWEITE ATEM, durch einen unterkühlten, präzise-nüchternen Stil aus, in dem stoische Charaktere stattfinden. Er perfektionierte seine Ambitionen, den Fatalismus des US-amerikanischen Film Noir mit der Sensibilität des französischen Kunstkinos der Nouvelle Vague zu verbinden, als er 1967 DER EISKALTE ENGEL drehte. Dort hatte er den unbeschreiblich coolen Alain Delon als professionellen Auftragsmörder gezeigt, lebend und tötend in einer obskuren Trenchcoat-Parallelwelt.

Gemeinsam mit Delon kehrte er drei Jahre später in diesen streng stilisierten Filmkosmos zurück. VIER IM ROTEN KREIS war Melvilles Herausforderung an sich selbst. Wie er 1972 in einem Interview verriet, das in „Les Cahiers de la Cinémathèque No 25“ veröffentlicht wurde, wollte er sich seinen wichtigsten Grundsatz beweisen, dass es „sehr wohl die Art den Film zu bearbeiten ist, die in einem Krimi zählt“. Er habe sich „dazu gezwungen, einen Film zu machen, der zu Beginn und am Ende einige absolut konventionelle Situationen beinhaltet“. Nicht mehr der Inhalt der Szenen war für ihn die Essenz, viel mehr deren Gestaltung. Und hier war alles erlaubt: „Ich mache nie Realismus“, lässt er sich zitieren.

Nichts zeigt das besser als die Einführung des Scharfschützen Jansen. Der wälzt sich bei seinem ersten Erscheinen im Bett, als ein Wandschrank sich mysteriöserweise öffnet. Heraus kommen unnatürlich große Spinnen. Kurz darauf folgen ihnen Eidechsen, Schlangen und Mäuse. Nur einen Schnitt später wuseln die Tiere auf dem Bett und auf Jansen; erst als sein Telefon ertönt, springt er auf. Die vielen leeren Alkoholflaschen neben seinem Bett verraten die Herkunft des gerade Gesehenen: Delirium tremens. Yves Montand spielt Jansen trotzdem nie als das Klischee eines Alkoholikers. Subtil fällt aber auf, wann immer er die Szene mit Delon oder Volonté teilt, dass er selbst neben den Stoikern noch emotionslos wirkt, wie ein menschlicher Zombie durch den Tag wandelt.

Schon immer ging es in Melvilles Filmen wortkarg zu, doch dieses Trio Infernal scheint nahezu ausschließlich über Blicke zu kommunizieren. Meisterlich erzählt Melville in konzentrierten Bildern ihre Geschichten, und überlässt das Reden ihrem Gegenspieler, dem Kommissar Mattei, den André Bourvil als gebrochenen, verbissenen Jäger spielt, der auch vor Einschüchterung potenzieller Informanten nicht zurückschreckt. Dabei ist Mattei auf seiner Wache noch jener Strafverfolger, der sich am ehesten moralischen und humanistischen Werten verschreibt. Sein Vorgesetzter hält Grenzen und Skrupel für überflüssig und hält sich an eine pessimistisch-pragmatische Weltanschauung: „Alle Menschen sind schuldig“, erklärt er seinem Untergebenen mehrfach – und Mattei ahnt, dass er recht haben könnte.

Mit solchen getriebenen Verfolgern konnte sich Melville schon immer inspirieren – nicht umsonst nahm der gebürtige Jean-Pierre Grumbach für seine Regie-Karriere den Nachnamen des „Moby Dick“-Autors Herman Melville an. Eine Nähe zu Kapitän Ahab lässt sich sowohl Mattei als auch Melville nachsagen. Was für den einen der weiße Wal ist für den anderen das verbrecherische Dreiergespann und für den nächsten die makellose Szenenmontage. Melville soll seinen Wal hier erlegen, denn die viel besprochene Einbruchsszene ist eben deshalb dieser meist diskutierte Moment aus VIER IM ROTEN KREIS, weil er den unbestreitbaren Höhepunkt einer an Höhepunkten nicht gerade armen Filmografie darstellt.

Bei aller Sorgfalt, die er bis dahin hat walten lassen, um seine Figuren in Position zu bringen, so hat er doch penibel mit einer Tradition des Heist-Films gebrochen: den Plan, den die Drei verfolgen, um den Juwelier auszurauben, erfährt der Zuschauer nicht. Stattdessen ist man in Echtzeit Zeuge der exakten Ausführung dieses Einbruchs. Ganze siebenundzwanzig Minuten dauert die Sequenz, gesprochen wird in dieser langen Zeit nur ein einziges Wort. Selbst die lässige Jazz-Musik des Komponisten Éric Demarsan, die zuvor noch kongenial entscheidende Momente akzentuierte, weiß, dass sie nun schweigen muss.

Wie Melville auf der Klaviatur der Erwartungen spielt und jedes Detail der Durchführung regelrecht auskostet, ist beispiellos. Nur wenige Filmemacher sind dazu fähig, die Spannung so lange konstant so hochzuhalten. Famos sind die Momente, in denen Corey und Vogel ein Fenster möglichst lautlos aufbrechen müssen oder Jansen für seinen Meisterschuss erst ein präzise justiertes Stativ aufstellt, um dann doch aus freier Hand zu zielen und abzudrücken. Regelrecht schelmisch baut Melville zudem eine kurze Situation ein, in der Jansen inmitten des Geschehens einen Flachmann auspackt und am Alkohol riecht, ihn dann jedoch wieder wegsteckt. Kurz keimt die Befürchtung auf, er könne durch seine Sucht das Unternehmen gefährden. So kommt es nicht.

Ein positives Ende erfährt die Gangsterfabel dennoch nicht. Melville sah den modernen Polizeifilm als logischen zeitgemäßen Nachfolger der antiken Tragödie. Seine Vorwerke schrammten nicht selten nah am alles verneinenden Nihilismus vorbei. Dass VIER IM ROTEN KREIS mit einem Showdown der vier zentralen Charaktere enden wird, ist vom ersten Augenblick klar. Bevor der Film nämlich eröffnet, ist ihm ein Zitat vorangestellt: „Siddharta Gautama, der Buddha, zeichnete mit roter Kreide einen Kreis und sagte: Wenn es vorherbestimmt ist, dass Menschen einander wiedersehen sollen, was auch immer ihnen geschieht, auf welchen Wegen sie auch wandeln, am gegebenen Tag werden sie einander unvermeidlich im roten Kreis begegnen.“

Keine dieser Figuren kann ihrem Schicksal also je entkommen. Ihr Gelingen und Scheitern ist längst vorherbestimmt. Mehrfach taucht der titelgebende rote Kreis im Film auf: Gleich in der ersten Szene ist eine rote Ampel zu sehen, die Mattei überfährt, um Vogel rechtzeitig an Bord eines Nachtzuges zu bringen, der ihn ins Gefängnis fahren soll und aus dem er ausbrechen wird. Hätte das Auto hier gestoppt, wären Vogel und Corey sich wohl nie begegnet. Corey zeichnet später einen roten Kreis auf einen Billardqueue, kurz bevor er erstmals von Berufsmördern ausgemacht wird. Ob es der Zufall oder wirklich schicksalhafte Bestimmung ist, was aus diesen Männern wird, lässt der Film offen. Doch folgt man dem Glauben des Polizeipräsidenten, alle Menschen seien schuldig, so kann es am Ende ohnehin nicht die Falschen treffen.

Nun mag alles, was Figuren in Filmen passiert, letztlich deterministisch sein, schließlich bestimmen der Autor und der Regisseur den Ausgang der Geschichte. Die Kunst des Erzählens liegt darin, die Illusion zu erzeugen, die handelnden Charaktere seien zu eigenen Entscheidungen fähig. In diesem Fall ist sich Jean-Pierre Melville seiner Rolle mehr als bewusst: das einleitende Zitat, welches in der Texteinblendung dem hinduistischen Mystiker Rama Krishna zugeschrieben wird, ist in Wahrheit frei erfunden.

Seine Filme waren alle Ausdruck seiner Persönlichkeit. Aus den schweigsamen Trenchcoat-Ganoven in modischen US-Autos spricht seine große, aufrichtige Liebe zum Kino von Übersee. Als ehemaliger Résistance-Kämpfer im Zweiten Weltkrieg spielen die Themen Loyalität und Verrat eine entscheidende Rolle in seinem Werk, so auch in diesem – seinem größten – Meisterwerk. Sein kontemplativer Formalismus findet bis heute Anklang. Zu seinen glühenden Verehrern zählen Quentin Tarantino, John Woo, Aki Kaurismäki und Michael Mann.

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Le Cercle rouge, Frankreich 1970 | Buch & Regie: Jean-Pierre Melville | Kamera: Henri Decae | Musik: Eric Demarsan | Darsteller: Alain Delon, Bourvil, Gian Maria Volonté, Yves Montand, Paul Crauchet u.v.a. | Laufzeit: 140 Min.

Fotos: Kinowelt Home Entertainment