NIFFF 2024: Cuckoo

NIFFF 2024: Cuckoo

Von Michael Kathe

Horror ab! Der zweite Langfilm von Tilman Singer nach LUZ (2018) türmt gleich am Anfang auf exzessive, aber gekonnte Weise Ungemütliches und Bedrohliches aufeinander. Die Fahrt zum seltsamen Resort „Alpschatten“ (was für ein Name!), abgelegen in den bayrischen Wäldern, weckt gleich mal Erinnerungen an SHINING. Ankunft in Alpschatten: Der neue Chef von Gretchens Vater Luis (Marton Csokas), Herr König (Dan Stevens), ist schleimig-überfreundlich, führt klar Böses im Schilde. Beunruhigende Schritte, als Gretchen (Hunter Schafer) auf der Toilette sitzt (sowas weiß Singer überaus spannungsgeladen zu inszenieren) machen den ersten Stuhlgang nicht vergnüglicher. In der Lobby des Hotels kotzt eine junge Frau auf den Boden, dazu der beiläufige Kommentar der Rezeptionistin: „Passiert schon ein- zweimal die Woche“. Eine furchteinflößende hexenartige Frau, die der nachts durch den Wald radelnden Gretchen in atemberaubender Geschwindigkeit folgt (Horror zwischen Märchengrauen und Argento-Alptraum). Und, ganz wichtig, seltsame Wiederholungen in der Wahrnehmung gewisser Personen. Kurze Momente, die sich wiederholen, und die epileptische Anfälle auslösen. Schon allein diese erste halbe Stunde lohnt den Film.

Story ab: Gretchen fährt mit ihrem Vater, ihrer Stiefmutter Beth (Jessica Henwick) und deren stummen 7-jährigen Tochter Alma (Mila Lieu) in ebenjenes Ferienresort, weil Vater Luis einen Ergänzungsbau für Besitzer König machen soll. Gretchen leidet am Tod ihrer Mutter in den USA. Die Stimme der Mutter auf dem Anrufbeantworter wird dabei ihr Schmerz- und Sehnsuchtsvehikel. Mit ihrem Leben im abgelegenen Alpschatten will sie sich nicht anfreunden, ihr Wunsch wäre es, möglichst schnell von diesem seltsamen Ort wegzukommen. Ihr Job an der Rezeption vom „Alpschatten“ trägt nicht dazu bei, den Aufenthalt angenehmer zu gestalten.

Immer merkwürdiger entwickelt sich auch die seltsame Verbandelung von König mit der Klinik in der Nähe, sein übertriebenes Interesse an Gretchens Halbschwester Alma, von seltsamen Forschungszweigen, die nicht sehr vertrauensbildend sind, einmal abgesehen. Deren Leiterin, die überfreundliche Dr. Bonomo (Proschat Madani), ist nicht minder gänsehautbildend wie König.

Tatsächlich ist Singers zweiter Spielfilm eine dynamische, schauerlich-fröhliche Mischung aus SHINING, Argento und einer Einspritzung PSYCHO, und geht – vor allem im etwas zu lang geratenen Ende – sehr „physisch“ ab. Es gibt zwar relativ viele Protagonisten, doch die sind alle gut eingeführt, funktionieren in ihrer dramaturgischen Rolle und gehen – im Fall von Gretchen – auch etwas weiter. Gretchen ist ein cooler Teenager, die sich auf ein Abenteuer mit einer Frau einlässt und die Bass spielt. Ihre düsteren, langsamen Bassläufe fräsen sich in einen Soundtrack ein, der sich wie ein langsames Stück aus Jesus and The Mary Chain’s „Psycho Candy“-Phase anhört und den richtigen Kontrast bildet zu Herrn Königs beunruhigend klingendem Blockflötenspiel.

Ohne die (vielleicht etwas zu konstruierte) Auflösung hier auszuplaudern, sollte eine inhaltliche Ingredienz nicht unerwähnt bleiben, die Singers Horrorfilm beschwört. CUCKOO spielt in einem Luxushotel mitten im Wald, einer Szenerie, die sich neuere Horrorfilme oft zu eigen machen und die deshalb beachtenswert ist. Schon in der Luxusvilla im spanischen Horrorfilm CUCKOO‘S CURSE, aber auch im Luxus-Air-B’n’B in SUPERPOSITION oder dem cosy-eleganten Jagdhäuschen in Sarah Gyllenstiernas JAKT oder dem großartig umgebauten Landhaus in Damien McCarthys ODDITY (um noch zwei weitere Filme zu nennen, die dieses Jahr im Wettbewerb am Neuchâtel International Fantasy Film Festival liefen) entwickeln sich stets unheimliche psychische Vorgänge. Man kommt nicht umhin, den Wald als die große Metapher des Unbewussten zu sehen, ganz klassische Psychologie. Interessant ist allerdings dabei, dass alle aufgelisteten Filme in den nördlichen Regionen der westlichen Welt spielen, und vor allem, dass die Aufenthaltsgelegenheiten in diesen Wäldern Träume eines modernen, coolen Lebens widerspiegeln. Es ist nicht mehr das Auftauchen des Primitiven, Lüsternen und Grenzüberschreitenden wie in den 1990er Jahren noch in TWIN PEAKS. Heute geht es um das Cleane im Luxus, das Reglementierte, das neue Standesdenken, das sich im Unbewussten versteckt.

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Cuckoo, Deutschland/USA 2024 | Regie & Drehbuch: Tilman Singer | Kamera: Paul Faltz | Musik: Simon Waskow | Darsteller: Hunter Schafer, Dan Stevens, Jessica Henwick, Marton Csokas, Jan Bluthardt u.a. | Laufzeit: 102 min.

Fotos: Weltkino Filmverleih