Genf, Genies und Gender.

Wer sich hin und wieder dem populären Genre der Historienfilme hingibt (soll‘s ja geben, auch unter Fans des unterschlagenen Films), für den müsste als Splatting-Image-Fan die Filmbiografie von Mary Shelley grössere Pflicht sein als etwa COLETTE (die bestimmt sexier ist) oder MARIA STUART (vermutlich blutiger), um zwei andere aktuelle Filmbiografien zu erwähnen. Denn die historische Mary Shelley ist niemand geringeres als die Autorin von „Frankenstein“, einem der beiden berühmtesten Horrorromane in der Geschichte der Weltliteratur. Deshalb kam die Autorin auch in Filmen wie James Whales BRIDE OF FRANKENSTEIN (durch Elsa Lanchester), Ken Russells GOTHIC (durch Natasha Richardson) oder Roger Cormans FRANKENSTEIN UNBOUND (durch Bridget Fonda) bereits zu ihren Auftritten.

MaryShelley_Poster Wie Mary Shelley gerade jetzt zur Ehre einer Filmbiografie kommt, ist schnell erklärt: Im Zuge des verstärkten Augenmerks auf Frauengeschichten und Heldinnen tritt auch die Schöpferin von Frankenstein auf den Plan, zumal sie in ihrer Zeit eine durchaus interessante Vita führte, umgeben von schillernden Persönlichkeiten. Dass im Film der saudiarabischen Regisseurin Haifaa Al-Mansour die feministische Perspektive wohl ein treibendes Moment war, zeigt sich schon darin, dass an manchen Stellen des Films anachronistisch von „gender“ statt von „sex“ gesprochen wird.
Legitim ist die feministische Perspektive trotzdem. Denn Mary Shelley (Elle Fanning), die ursprünglich Mary Godwin hieß, wuchs nicht nur als Tochter eines der Begründer des Anarchismus, William Godwin (Stephen Dillane), auf. Ihre gleich nach der Geburt verstorbene Mutter Mary Wollstonecraft übte posthum einen wohl ebenso bedeutenden Einfluss auf Mary aus. Denn als Autorin eines der grundlegenden Werke des Feminismus („Die Verteidigung der Rechte der Frau“, 1792) verbreitete Wollstonecraft freiheitliche Thesen gleicher Rechte, die von ihrer Tochter wie ein moralischer Kompass eingesogen wurden. Nicht zuletzt deshalb treibt sich Mary gerne bei Mutters Grab auf dem Friedhof herum.

MaryShelley_1 Der arme Buchhändler William Godwin kann seine Tochter ein paar Wochen lang auf ein Landgut in Schottland schicken, wo Mary auf edle Kleider, feines Benehmen und den jungen Dichterstar Percy Bysshe Shelley (Douglas Booth) trifft. Fasziniert vom aufmüpfigen Verhalten und gleichzeitig den sensiblen und freiheitsliebenden Gedichten und Briefen Shelleys findet sie in ihm endlich einen Verwandten im Geiste. Sie heiraten und bekommen ein Kind, das in den widrigen Umständen, in denen sie leben, sterben wird. Denn die junge Familie Shelley lebt auf Pump, der Dichterfürst erschwatzt sich Geld, zum Erschreiben reicht es nicht. Die Tristesse nimmt überhand.
Eher ein Zufall will es, dass die Shelleys das andere Dichtergenie Englands, Lord Byron (Tom Sturridge), kennen lernen und dass Marys Halbschwester Claire Clairemont (Bel Powley) ihn lieben lernt. Bei einer Variétéshow, in der die Wiederbelebung eines Frosches mit Elektrizität demonstriert wird. Damit sind die Ingredienzien angemischt, um das berühmte Schlüsselerlebnis in der Geschichte der drei großen Poeten auszubreiten: das Treffen am Genfer See, dass bereits einmal irrwitzig-schwungvoll von Ken Russell verfilmt wurde (GOTHIC, 1986).

Al-Mansour schildert uns die Genf-Episode, die oft als Initialzündung literarischen Horrors gesehen wird, auf völlig andere Art: gänzlich unheroisch. Byron und Percy Shelley suhlen sich auf erbärmliche Art in ihrem Geniekult, schlucken zu viele Drogen. Byron behandelt Claire abschätzig, macht sich über die Erzählung seines Leibarztes und Schriftstellers Giovanni Polidori (Ben Hardy) lustig. Die Resultate sind bekannt: Weder Byron noch Percy Shelley schreiben bedeutsame Schauerstories, sondern Polidoris „The Vampyre“ entpuppte sich als erste Vampirgeschichte und Mary Shelleys „Frankenstein or The Modern Prometheus“ (1818) wurde zu dem Horrorklassiker schlechthin, der neben Bram Stokers „Dracula“ (1897) als bedeutendstes Werk der Horrorliteratur zählen darf.

MaryShelley_3 Al Mansours Film liefert keine umfassende Erzählung von Mary Shelleys Leben, sondern konzentriert sich zu sehr auf ihre Zeit in England und, wie sich daraus die Genfer Episode entwickelt. Marys bewegte Reisen mit Percy und Claire nach der Genfer Episode fehlen ebenso wie die umtriebige Zeit nach Shelleys Tod. Bedeutende historische Entwicklungen wie die Faszination der relativ frisch entdeckten Elektrizität werden leider zu beiläufig als Variéténummer eingebaut, obwohl gerade Elektrizität zur Erschaffung von Leben als eine der gängigsten wiewohl spannendsten Interpretationen von Mary Shelleys Erzählung gilt (der Roman spricht allerdings lediglich von „infuse a spark of being into the lifeless thing“). Das Al Mansour hier nicht weiter geht (oder die Elektrizität ganz weglässt), ist dann wieder zu wenig und spricht nicht dafür, dass sie sich mit dem Frankenstein-Stoff ernsthaft beschäftigt hat.
Auch insgesamt zeugt Al Mansours Film nicht von einer leidenschaftlichen Auseinandersetzung mit Mary Shelley: Sie fokussiert fast ausschließlich die Schaffung des Frankenstein-Romans (1816 in Genf war Mary erst 19 Jahre alt) und verpasst es dabei, dem vielseitigen Leben der Schriftstellerin, die mit 54 Jahren starb, mehr abzugewinnen. Nämlich das Reife, Überlegte und wirklich Feministische.

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Mary Shelley | USA 2017 | Regie: Haifaa Al Mansour | Drehbuch: Haifaa Al Mansour, Emma Jensen, Conor McPherson | Musik: Amelia Warner | Darsteller: Elle Fanning, Maisie Williams, Bel Powley, Douglas Booth, Tom Sturridge, Stephen Dillane | Laufzeit: 120min.