Brandon Cronenberg liefert einen originellen Body-Horror-Film ab und tritt damit (endgültig) in die Fußstapfen seines Vaters.
READY PLAYER ONE für Auftragskiller
Tasya Vos ist eine Auftragskillerin, die die Kontrolle über die Körper anderer Menschen übernehmen kann. Durch ein Implantat im Gehirn des ahnungslosen Opfers schleust Vos mit Hilfe einer speziellen Maschine ihr Bewusstsein in dessen Körper ein und begeht dann den Mord. Erst wenn der Wirt, also der fremde Körper, am Ende eines Auftrags Selbstmord begeht, kann Vos in ihren eigenen Körper zurückkehren. Um ihre Rollen perfekt zu verkörpern, verbringt sie viel Zeit damit, ihre Opfer vor der Übernahme zu imitieren, all die Gesten und Gewohnheiten zu verinnerlichen. Diese Tätigkeit und das andauernde Körperwechseln führen dazu, dass Vos sich zunehmend von ihrer eigenen Identität zu lösen beginnt und selbst Mann und Sohn fremd wird. Sie wohnt auch bereits getrennt von ihrer Familie. Man möchte meinen, dass Vos nun versucht, wieder zu ihrer eigenen Identität zurückzufinden und ihr Leben zurückzubekommen, doch es kommt alles anders…
Brandon Cronenberg, der Sohn des Filmemachers David Cronenberg, fügt dem „Körpertausch“- bzw. „Körperübernahme“-Genre einen interessanten Film hinzu. IM KÖRPER DES FEINDES (1997) oder SOURCE CODE (2011) sind Beispiele für solche Filme; doch POSSESSOR setzt im Gegensatz dazu mehr auf Body-Horror, versucht herauszufinden, was mit den Personen passiert, die den fremden Körper übernehmen bzw. den Personen, deren Körper von einer fremden Entität übernommen wurde. Cronenberg verwendet dafür sehr plastische Bilder, Häute werden von Gesichtern gezogen und über Köpfe gestülpt, Menschen tauschen Körperhüllen etc. Dazu kommen viele brutale Momente, wenn Körper geschändet werden, sei es mit einem Messer, einem Schürhaken oder einem Beil.
POSSESSOR wirkt auch wie eine zu einem Film umgearbeitete Episode aus der Science-Fiction-Serie BLACK MIRROR. Die Nebenwirkungen der eingesetzten Technologie werden zur Schau gestellt und auch allgemein wird gezeigt, was sie aus Vos letztendlich macht: eine emotionslose Tötungsmaschine. Kritik am technischen „Fortschritt“ schwingt deutlich mit. Nicht zuletzt gleicht Cronenbergs Film einer erwachsenen, brutaleren Variante von Steven Spielbergs READY PLAYER ONE (2018). Vos erträgt ihr „wahres“ Dasein nicht mehr, fühlt sich in der „realen“ Welt einfach nicht mehr wohl und entflieht deshalb sehr gerne immer wieder in die VR-ähnliche Auftragskillerwelt. Auch in Spielbergs Film ist die „reale“ Welt zu einem unerträglichen Ort geworden, weswegen die Menschen immer mehr Zuflucht in der OASIS, einem Multiplayer-VR-Spiel, finden, genau wie Wade Owen Watts, der Protagonist von READY PLAYER ONE. Bei Cronenberg ist Vos sozusagen ein weiterer Watts – nur brutaler, unberechenbarer und einsamer.
Ein Kampf der Identitäten
Am stärksten ist der Film beim Kampf zwischen Vos (Andrea Riseborough liefert hier eine herausragende Performance) und deren neustem Opfer, einem Mann namens Colin Tate, um die Oberhand innerhalb von dessen Körper zu gewinnen. Wer wird sich am Ende durchsetzen? Wer ist gerade am Zug? Wer hat das Nachsehen? Für den Zuschauer ist dies nie ganz eindeutig, was dem Film in diesen starken Minuten an zusätzlicher Spannung bringt. Auch die Tatsache, dass Vos einen männlichen Körper übernimmt und erst einmal mit den Eigenschaften eines Mannes zurechtkommen muss, ist sehenswert. Begleitet werden diese Momente von effektiven, abstrakten, teils verstörenden Bildern und atmosphärischen Klängen. Hier zeigt sich das ganze Talent Cronenbergs, das er bereits mit seinem Erstlingswerk ANTIVIRAL (2012) bewiesen hat und das dem seines Vaters in kaum etwas nachsteht. Bis zur letzten Minute fragt man sich, wer denn nun in den verschiedenen Körpern steckt (nicht nur Tate ist übernommen worden, auch andere Körper). Die Auflösung bzw. das Ende sind dann von brutaler Kälte und Hoffnungslosigkeit, jeder übriggebliebene Funken von Schuld und Reue scheint endgültig verflogen…
POSSESSOR wirkt auch ein bisschen wie eine Hommage an Brandon Cronenbergs Vater. Das Thema der Identitätsfindung ist sicher nicht einfach so gewählt (Wie finde ich meinen eigenen Weg?), auch die Schauspielerin Jennifer Jason Leigh lässt an David Cronenbergs exzellenten Film EXISTENZ (1999) denken, wo sie eine der Hauptrollen gespielt hat, und nicht zuletzt ist der Verweis auf Body-Horror natürlich ein Augenzwinkern an seinen Vater.
Als Sohn von David Cronenberg hat es Brandon Cronenberg bestimmt nicht einfach. Kinder von Eltern aus der Filmindustrie, die ebenfalls im Filmbusiness tätig sind, können in der Regel auf die Hilfe ihrer Eltern zählen, von deren Namen profitieren, doch der große Erfolg blieb meist aus. Wer kennt schon Zoe Jackson (Produzentin und Regisseurin), die Tochter von Samuel L. Jackson, oder Jennifer Lynch (Regisseurin und Drehbuchautorin), die erste Tochter von David Lynch? Meist ist der Schatten der Eltern zu groß; nur selten übertrumpfen Kinder von Künstlern ihre Eltern oder erreichen deren Ruhm. Seltene Beispiele im Filmbusiness wären hier Michael Douglas (Sohn von Schauspiel-Legende Kirk Douglas) oder Laura Dern (Tochter von Bruce Dern). Und vielleicht zählt auch Brandon Cronenberg einmal dazu, jedenfalls wenn er weiterhin solche originellen und reizvollen Filme wie POSSESSOR dreht.
Adrian Gmelch ist Autor des Filmbuches „Die Neuerfindung des M. Night Shyamalan“ (Büchner, 2021) und beschäftigt sich vor allem mit dem Horrorgenre im Film.
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Possessor | USA/Kanada 2020 | Regie: Brandon Cronenberg | Drehbuch: Brandon Cronenberg | Kamera: Karim Hussain | Musik: Jim Williams | Darsteller: Andrea Riseborough, Christopher Abbott, Rossif Sutherland, Sean Bean, Jennifer Jason Leigh, u.a. | Laufzeit: 104 Min.