In einer Plattenbau-Siedlung klingelt nachts das Telefon. Polizeichef („Mayor“) Sobolew erfährt, dass seine Frau in den Wehen liegt. Sobolew rast in seinem Auto durch vereiste Straßen zum Krankenhaus, gerät ins Schleudern und fährt ein Kind vor den Augen seiner Mutter tot. Sobolew bittet seine Polizeikollegen über Funk, ihm aus dem Schlamassel zu helfen. Die stehen bedingungslos hinter ihm. Sie zwingen die Mutter, eine falsche Zeugenaussage zu machen, indem sie auf dem Revier auch noch ihren Mann verprügeln. Sobolew plagen langsam Gewissensbisse nicht nur wegen des Kindes, sondern auch wegen des Gewaltpotenzials seiner korrupten Kollegen. Er will die Verantwortung für den Unfall übernehmen und lässt sich in eine Zelle sperren. Doch da steht plötzlich der Vater des Kindes mit einem Gewehr im Revier und nimmt zwei Polizisten als Geisel. Eine Kettenreaktion ist in Gang gesetzt, die – wie fast immer bei einem russischen Film – nicht happy endet. Soviel sei verraten, ohne zu viel zu verraten. Denn so düster Juri Bykows zweiter Langfilm auch sein mag, vorhersehbar ist er nicht.
Wie bei seinem toten Kollegen dient Juri Bykow das Genrekino nur als Mantel für eine zynische Parabel über den Selbsterhaltungstrieb des Menschen und weniger als zigster Anlauf, um die Korruption im heutigen Russland zu brandmarken. Die weitestgehend wertfreie Inszenierung in kaputten und verschneiten Ostblock-Kulissen weckt schnell Erinnerungen an Kieslowskis DEKALOG. Nur dass in THE MAJOR bis auf die Mutter jeder Dreck am Stecken hat. Der eine oder andere Zuschauer wird deshalb durchaus Probleme haben, eine wirkliche Identifikationsfigur oder klassische Feindbilder zu finden. Denn selbst der Oberbösewicht, gespielt vom Autor/Regisseur selbst, ist nicht so eindimensional gezeichnet, wie es sich mancher gerne wünschen würde.
Technisch gibt es an THE MAJOR nichts zu mäkeln. Nach seinen beiden Breitwand-Fingerübungen THE BOSS und TO LIVE ist THE MAJOR deutlich anzusehen, dass da einer seinen Auteur-Platz im internationalen Kino sucht. Die karge russische Winterkulisse findet ihre Entsprechung in farbentsättigten Cinemascope-Bildern. Die ebenfalls von Bykow komponierte Musik unterstreicht die moralischen Dilemmas, wenn die ambivalenten Figuren von der Kamera halbnah halb umkreist werden. Selbst die reduzierten schauspielerischen Leistungen sind durch die Bank hervorragend. Das Einzige, was Anlass zu Kritik geben könnte, sind vielleicht die One-Liner-Dialoge, doch hier gilt im Zweifel für den Angeklagten: Es ist eben auch ein Genre-Film.
TO LIVE ist Existenzialismus pur, handelt ähnlich wie Joseph Loseys IM VISIER DES FALKEN einfach nur vom Kampf ums Überleben. Es gibt keine wirkliche Begründung für die Hatz und nur wenig Hintergrundinformationen über die Jäger und die Gejagten. Die zwei Flüchtigen lernen sich kennen und respektieren, während sie in verschiedenen Variationen mit einem moralischen Dilemma konfrontiert werden: Zwei Schiffbrüchige hängen auf einer Planke, die das Gewicht zweier Menschen nicht trägt. Wer soll sterben?
Kompakt, stringent und bar jeglicher Melodramatik erzählt, hinterlässt Bykows Lehrstück beim Betrachten des Abspanns einen ähnlich faden Nachgeschmack wie sein vierter Kurzfilm THE BOSS (2009), der ihm mit der Auszeichnung zum „Besten Kurzfilm“ beim Kinotaur-Festival in Sotschi Tür und Tor zu den Filmfestivals dieser Welt öffnete.
Die Weltsicht des Juri Bykow scheint eine durchaus pessimistische zu sein: Jeder hat zwar immer die Wahl, wenn er auf Messers Schneide herumtorkelt, auf welche Seite er kippt. Doch bei ihm entscheiden sich die Protagonisten immer für den eigenen Vorteil. Die oftmals folgende Reue (ein Element, was ihn deutlich von Balabanow unterscheidet) kommt aber meistens zu spät. Eigentlich ist dieses Verhalten fast schon der Spoiler bei jedem Bykow-Film. Doch der 1981 geborene Russe steht erst am Anfang seiner Karriere. Der Erfahrungswert mit der Filmkarriere einiger ähnlich gestrickter Auteurs wird bei ihm zeigen, ob er weiterhin mit seinen Extremsituationen immer wieder dasselbe variiert, oder im Zuge eines potenziellen internationalen Erfolges (der sich mit zahlreichen Auszeichnungen für THE MAJOR schon ankündigte) etwas subtilere Parabeln strickt.
Eines ist aber sicher: Von Juri Bykow wird man in Zukunft noch viel hören und hoffentlich auch hierzulande sehen. Sein neuester Film FOOL (Durak) hatte Anfang Juni erneut beim Kinotaur-Festival seine Premiere. Diverse internationale Screenings werden bestimmt folgen…
Mayor/Zhit/Nachalnik Russland 2013/2010/2009 | Regie, Drehbuch, Musik: Juri Bykow | Mit: Denis Schwedow, Irina Nizina, Juri Bykow (Mayor); Sergei Beljajew, Alexei Komaschko (Zhit); Andrei Bulatow, Juri Bykow, Alexander Golubkow (Nachalnik); u.a. | Laufzeit: 95/72/20 Minuten, noch ohne deutschen Verleih.