Frank Pavichs Dokumentarfilm über Jodorowskys DUNE (s. Besprechung auf dieser Webseite) konnte in jüngster Zeit noch einmal untermauern, dass die geplatzte Leinwandadaption von Frank Herberts Kultroman durch den großen chilenischen Megalomanen neben Kubricks NAPOLEON oder Kurosawas RUNAWAY TRAIN zu den faszinierendsten Filmen gehört, die nie zustande kamen. In perfektem Timing gibt die von Bildstörung vorgelegte Kollektion, die schon jetzt zu den bedeutendsten Veröffentlichungen dieses Kalenderjahres gezählt werden kann, die überfällige Gelegenheit, das klassische Werk des umstrittenen Über-Künstlers in brillantester Qualität neu und/oder wieder zu erleben.
Der heute 85jährige Jodorowsky steht für eine kompromisslose Kunst, die alles umfassen wollte und sollte, und gleichzeitig symbolisch für das Kino einer Zeit und Lehre, die Drogen als bewusstseinserweiternde Werkzeuge besah, mit deren Hilfe man zu Selbsterkenntnis und Lebenssinn gelangen konnte. Lange galten die Klassiker EL TOPO und THE HOLY MOUNTAIN (DER HEILIGE BERG / MONTANA SACRA) als visualisierte Rauschzustände, zumal sie zu ihrer Zeit und von ihrem Publikum meist in erweitertem Bewusstseinszustand rezipiert wurden. Jodorowsky selbst berichtet amüsiert von den Rauchschwaden, die durch die Kinos zogen, in denen THE HOLY MOUNTAIN monatelang ununterbrochen lief.
30 Jahre später lässt sich mit großer Faszination die strenge Vision hinter den Projekten erkennen, die präzise, wenngleich meist kryptische Metapher, die Jodorowsky stets gezielt an die Stelle kinoüblicher Narration setzte, während er sich als bekennender Kinofan gleichzeitig aller für ihn greifbaren Motive aus dieser Tradition bediente. Alejandro Jodorowsky, der 1929 im Städtchen Tocopilla in Nordchile zur Welt kam, nennt das Kino gern als seine persönliche Epiphanias und die Filme – wie William Dieterles HUNCHBACK OF NOTRE DAME – und Serials, die er als Kind gesehen haben will, als seine eigentliche Sozialisation. Als Weltnomade landete er 1953 auf dem Weg über Mexiko und Spanien in Paris, suchte dort Anschluss an die Surrealisten (überwarf sich aber mit André Breton) und arbeitete lange mit Marcel Marceau, für den er zahlreiche pantomimische Stücke schrieb, darunter den Meilenstein „La Cage“. Vor allem das Multitalent Jean Cocteau war sein großes Vorbild; auch Jodorowsky wollte Lyrik, Theater, Kunst und Kino schaffen, drehte 1957 die Pantomime LA CRAVATE in der Tradition des surrealistischen Klassikers MYSTERIEN EINES FRISIERSALONS: Da sein Gesicht seiner Angebeten nicht gefällt, lässt sich in ein junger Mann in einem ungewöhnlichen Modegeschäft einen neuen Kopf nach dem anderen aufschrauben, ohne den gewünschten Erfolg bei seiner Herzensdame zu erzielen. Schon will er aus dem Leben scheiden, erobert dann aber das Herz der süßen Saloninhaberin. Der Regisseur selbst tritt als Bettler auf.
Überhaupt stehen der klassische Surrealismus, der sich nach Jodorowskys wütender Einschätzung in den 50er Jahren zur Biederkeit entwickelt hatte, und das Absurde Theater im Zentrum seines Œuvres. In Mexiko, wohin er 1965 zurück kehrt, inszeniert er mit selbst gegründeten Theatergruppen Stücke von Samuel Beckett, Eugène Ionesco und seines Freundes Fernando Arrabál und provoziert damit erstmals die Skandale, mit denen sein Name über Jahre hinweg assoziiert wurde. Im erzkonservativen Mexiko gilt Beckett etwa als Schund, bis er den Nobelpreis erhält. Arrabáls Stück „Fando und Lis“, dem Jodorowsky nach eigener Aussage sehr zugetan war und das er mehrmals inszenierte, wird Grundlage seines ersten Spielfilms drei Jahre später. Tatsächlich verwendet er für den Film FANDO Y LIS weder Dialoge noch Handlungsverlauf des Bühnenstücks, sondern improvisiert vielfach ein kryptisches Ensemble bizarr-expliziter Happenings um die beiden Protagonisten, die gelähmte Lis und ihren Bruder Fando, die auf dem Weg durch eine zerstörte, vielleicht post-apokalyptische Landschaft in die mystische Stadt Tar sind und bei allerlei mehr oder weniger märchen- bis alptraumhaften Begegnungen zu Objekten sexueller Begierden werden. FANDO Y LIS geriet bei seiner Uraufführung 1968 beim Filmfestival in Acapulco zum Auslöser eines Publikumsaufstandes (das den Regisseur angeblich dafür umbringen wollte) und ebnete dem Meister den Weg für seinen legendären Mystik-Western EL TOPO (1970).
Wenn man in den klassischen Filmen Jodorowskys eine übergreifende Handlungsschablone erkennen kann, dann ist es das Motiv der Reise zur Erleuchtung, das alle seine Protagonisten zu einer zielstrebigen, in esoterischem Sinne ihr gesamtes Leben umfassenden Wanderschaft treibt, an deren Ziel ein Ort der Verheißung steht. Nicht zufällig war Jodorowsky zu jener Zeit ein Anhänger Georges Gurdjieffs und seiner dem Sufismus sowie dem Buddhismus nahe stehenden Lehre des Vierten Weges der Ganzheitlichkeit, in deren Zentrum die philosophische Reise zur Selbsterkenntnis steht. Wie Fando und Lis begibt sich auch der Revolverheld El Topo (dargestellt vom Regisseur selbst) auf die Suche nach seiner Bestimmung, die ihn durch die mexikanische Wüste und in eine Transgression vom Todesengel zum Heiligen Mann führen wird. Wie später auch THE HOLY MOUNTAIN zerfällt der Film in zwei Hauptsegmente, die seinen antithetischen Helden zunächst zum Duell gegen vier mächtige Meister der Wüste antreten und dann als Erlöserfigur in einer dem Götzenkult verfallenen, die degenerierte menschliche Gesellschaft darstellenden Stadt die selbstgewählte Passion erleiden lässt. Gibt sich EL TOPO noch als surrealistische Version eines Spaghetti-Western (gedreht wurde u.a. an Sets, die von THE WILD BUNCH übrig waren), so erschafft Jodorowsky im überformten, in megalomanem Stilwillen erstarrten HOLY MOUNTAIN (1973) eine von Motiven kubistischer Phantastik und Science Fiction geprägte, homogen artifizielle Welt. Wieder eine als Erlöserfigur apostrophierte Gestalt, hier ist es ein Dieb (analog zu den biblischen Schächern außerhalb der Gesellschaft stehend) erlebt die Perversion der Menschheit, wird von einem weisen Alchimisten und Tarotmeister (wieder Jodorowsky selbst) zu einem erhabenen Mandat geführt: Mit sieben Gefährten, die einst monströse Auswüchse der spätkapitalistischen Weltgesellschaft repräsentierten, soll er den Meister auf die Pilgerfahrt zum Heiligen Gipfel der Unsterblichkeit begleiten. Am Ende steht eine neue Form von Epiphanias, denn der Alchimist entlarvt sich selbst als Leinwandzauberer und die Geschehnisse als ‚Only a Movie’. Die ursprünglich geplante Auflösung des Films war weniger rational, dafür noch deutlich erdverbundener.
„Für mich sind Komik und Tragik dasselbe,“ drückt Jodorowsky seine künstlerische Yin-und-Yang-Synthese aus. „Das Schreckliche und das Schöne gehen Hand in Hand.“ Tatsächlich scheint auch der kreative Geist hinter und in den seinerzeit kultisch gefeierten Filmen einen Erkenntnisprozess zu durchlaufen. Trotz seines gespaltenen Verhältnisses zum etablierten Surrealismus sah er nach eigener Aussage im surrealistischen Film die absolute Kunst, natürlich Buñuel und auch Godard als wesentliche Vorbilder nennend. Die (unverbürgte) Anekdote, dass er bei der Premiere von FANDO Y LIS in Acapulco von einem wütenden Lynchmob fast getötet worden wäre und nur im Fußraum von Polanskis Auto in Sicherheit gebracht werden konnte, erzählt er gern, um zu unterstreichen, dass ihn die Muster und Zwänge des kommerziellen Kinos nie interessierten. Immer fanden sich Mäzene (wie etwa John Lennon hinter THE HOLY MOUNTAIN), die eine Finanzierung seiner Zelluloid-Monumente mehr oder weniger gewährleisteten. Wie der Einsiedler im Tarot-Spiel, das er jahrzehntelang studiert und von dem er 1500 verschiedene Exemplare rund um die Welt zusammen getragen hat, auf der Suche nach Sinn, wollte Jodorowsky damals nicht weniger schaffen als das absolute Werk der absoluten Kunst: Einen Film von derselben Bedeutung einer Heiligen Schrift, der die kranke Welt heilen sollte. So wird das Tarot auch zum Schlüssel ebenso seiner Bildsprache wie seiner eigenen Proto-Philosophie, in dem das Arrangement der mystischen Symbole die heilende Einheit herstellt, die Synthese von Animus und Anima, von Intellekt, Emotion und Libido.
Die bis heute schillernde Magie dieser Filme, insbesondere natürlich in der nun vorliegenden, nie gekannten visuellen und akustischen Brillanz, liegt dabei ebenso in ihrem imaginativen Reichtum wie ihrer scheinbaren Bedeutungsoffenheit, die den Geist des Betrachters zum freien Assoziieren einzuladen scheint. Dennoch schuf der damalige Pilger, der sich vor den Dreharbeiten zu THE HOLY MOUNTAIN von einem LSD-Guru jene Erleuchtung erhoffte, die er der Welt vermitteln wollte (man schrieb die frühen 1970er), ein dezidiertes, wenn auch schwer zu entschlüsselndes Symbolsystem. Eine im trockenen Sand grabende Frau etwa ist als frigide zu erkennen, erklärt er im Audiokommentar zu EL TOPO – der dem DVD-Zuschauer hier so sehr ans Herz gelegt sei wie kaum je – , als sei es das Selbstverständlichste der Welt. Jodorowskys enthusiastische Audiokommentare liefern nicht nur ebenso den historischen Kontext zur Entstehung der Filme wie ihre Decodierungs-Anleitung, sondern auch die außergewöhnliche Begegnung mit einem Künstler, der aus seinem Œuvre bereitwillig heraustritt und doch konsequent seine eigene Legende lebt. Dabei verzeihen sein philosophisches und psychologisches Wissen, seine Selbstironie und der Reichtum dessen, was er uns mitzuteilen hat, das durchaus megalomane Ego des Meisters. Jodorowsky bleibt bei aller Eitelkeit sympathisch, ja einnehmend, und seine Filme haben die Zeit als prall gefüllte Wundertüten an visuellen und spirituellen Ideen ebenso überdauert wie als Dokumente der letzten großen Film-Epoche des Surrealismus, dessen Wiedergeburt nicht von ungefähr zunächst in Mexiko (und Japan) stattgefunden hatte.
Kino, das steht fest, ist für den Regisseur die größte aller Künste und nach seinem Verständnis – und dies trotz der Erkenntnis, die THE HOLY MOUNTAIN am Ende zu vermitteln sucht – kein Ort für Realismus, sondern der artifiziellen Kreativität, der angewandten Tiefenpsychologie (man beachte die Frauen- und Vaterfiguren vor allem in EL TOPO) und der Suche des Pilgers in uns allen nach Sex und Sinn gewidmet. Farbe, Dekor, Musik und vor allem auch Stimmen sind Kunstprodukte. Alle Filme sind im Wesentlichen stumm gedreht und nachsynchronisiert. Die lesbische, schwarze Revolverfrau in EL TOPO, das Alter Ego und die Anima El Topos im Sinne C.G. Jungs, ließ Jodorowsky von einem männlichen jungen Schauspieler synchronisieren. (Ein interessanter Fall künstlerischer Verfälschung in der Bearbeitung, erhielt die Figur doch in der – eigentlich deutlich hochwertigen – deutschen Sprachfassung eine weibliche Stimme. Der Meister selbst wird dort übrigens gesprochen von Klaus Kindler, der deutschen Stammstimme Clint Eastwoods.) Wahres Kino, das schien dem damaligen Sinnsucher eine größere Quelle der Erleuchtung zu sein als LSD. Wahres Kino, das ist heute noch seine Leidenschaft: „Wir müssen das Kino befreien, sonst bleibt es, was es heute ist: Eine Katastrophe.“
Schon im Frühling zunächst als Bestandteile einer umfangreichen Box vorgelegt, sind EL TOPO und THE HOLY MOUNTAIN aktuell auch als Einzeleditionen (jeweils mit Soundtrack-CDs und unterschiedlichem Bonusmaterial) erschienen. Die Gesamtedition beinhaltet zudem FANDO Y LIS und LA CRAVATE in deutscher DVD/BD-Premiere mit Untertiteln sowie die Dokumentation LA CONSTELLATION JODOROWSKY des französischen Fernsehens, die einen interessanten Bogen von Jodorowskys Schaffen der 60er und 70er Jahre und seiner Zusammenarbeit mit Moebius zu seinem aktuellen Wirken als Guru der Tiefenpsychologie schlägt. Auch hier tritt der Meister mitten im Film aus seiner Rolle heraus und bindet den Dokumentaristen als plötzlichen Protagonisten in sein Seminar mit ein. Verschiedene kürzere Interviewpassagen und nicht verwendete Szenen aus THE HOLY MOUNTAIN (der ursprünglich mit einer echten Geburt in einem mexikanischen Restaurant enden sollte), runden das Ganze ab. Sie sind in unterschiedlicher Verteilung auch auf den DVDs und Blu-rays der Einzeleditionen zu finden. Besonders verwiesen sei auf die Booklets mit u.a. einem umfangreichen Interview-Text und einem informativen und erhellenden Essay von Claus Löser.
Alejandro Jodorowsky mag vielleicht ein Scharlatan sein, aber mich begeistert er immer noch und immer wieder. Und wer seine Filme ihrer Sperrigkeit wegen als antiquiert betrachtet, der hat das heutige Kino sicherlich vollauf verdient.
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Fando y Lis, Mexiko 1968, Regie: Alejandro Jodorowsky, Mit: Sergio Klainer, Diana Mariscal, Maria Teresa Rivas, Tamara Garina, u.a.
El Topo, Mexiko 1970, Regie: Alejandro Jodorowsky, Mit: Alejandro Jodorowsky, Brontis Jodorowsky, Alfonso Arau, Mara Lorenzio, David Silva, u.a.
The Holy Mountain / La Montaña Sagrada, Mexiko/USA 1973, Regie: Alejandro Jodorowsky, Mit: Horacio Salinas, Alejandro Jodorowsky, Juan Ferrara, Adriana Page, u.a.
Anbieter: Bildstörung