Von Bodo Traber
Seit gut 100 Jahren – nicht nur – des deutschen Publikums liebstes Genre, war das Kriminalstück unter dem NS-Regime eher grimmig geduldet als willkommen. Wie etwa auch die Führung der DDR, wo der POLIZEIRUF 110 erst nach Bedenken und unter strenger Stoffüberwachung während der Tauwetter-Periode genehmigt wurde, tat sich die NS-Diktatur sehr schwer mit Krimis. Die Kriminalfilme, die während der 30er und frühen 40er Jahre in Deutschland entstanden, erzählten überwiegend im Propagandastil von erfolgreicher Polizeiarbeit im Kampf gegen unvölkische Elemente – darunter auch die heute noch als Vorbehaltsfilme eingestuften Spionagereißer DIE GOLDENE SPINNE (1943) und ACHTUNG! FEIND HÖRT MIT! (1940) – oder sie gehörten zum klassischen Unschuldig-beschuldigt-Film, der eigentlich ein Subgenre des Gerichtsfilms darstellt. Ausflüge in Abgründe der menschlichen Seele oder auf die dunkle Seite der Gesellschaft waren unerwünscht – allein die Suggestion, in einem straff geführten Staat und hinter heiler bürgerlicher Fassade könne das Verbrechen lauern, galt dem System als subversiv. Fritz Langs M und DAS TESTAMENT DES DR. MABUSE wurden ebenso verboten wie die expressionistischen Horrorfilme oder im Folgenden die phantastischen Stoffe etwa eines Hanns Heinz Ewers. Die vermeintliche Heroisierung des Verbrechers war als Schund gebrandmarkt; auch populäre Autoren wie Edgar Wallace oder Conan Doyle verschwanden zunehmend aus dem Repertoire. (Einen umfassenden Aufriss zum bisher kaum erforschten Thema liefert im Übrigen aktuell eine Dissertation von Carsten Würmann.)
Tatsächlich bleibt DR. CRIPPEN AN BORD neben etwa DER FALL DERUGA einer der wenigen bis heute bekannten Titel jener Zeit. Er entstand 1942 unter der Regie des auf Kriminalfilme spezialisierten Erich Engels (1889-1971), der nicht mit dem Brecht-Schüler Erich Engel (AFFÄRE BLUM) verwechselt werden sollte, und basiert (allerdings äußerst frei) auf einem historischen britischen Kriminalfall, der sich 1910 ereignete und für die populäre Kultur seiner Generation zum Urbild des Verbrechens im bürgerlichen Wohlstandsmilieu wurde. Dass die tatsächlichen Umstände des Falls im Dunkeln blieben, trug nur zu seiner lang anhalten Faszination bei. Kein dubioses Subjekt, sondern ein angesehener Arzt, namentlich Dr. Hawley Harvey Crippen, entledigte sich seiner Ehefrau mit Gift und Knochensäge und setzte sich mit seiner Geliebten Ethel Le Neve an Bord eines Transatlantikdampfers nach Übersee ab. Durch Zufall wurden die Überreste der zerstückelten Cora Crippen unter dem Kellerboden seines Hauses entdeckt; ein internationaler Steckbrief wurde herausgegeben, der auch die Besatzung des Dampfers erreichte. Dr. Crippen und seine Geliebte, die sich (angeblich wenig überzeugend) als junger Mann verkleidet hatte, wurden unter den Passagieren erkannt – sie gelten als die ersten Kapitalverbrecher, die mit Hilfe der Funktelegrafie gefasst werden konnten.
Der 1928 spielende Film konzentriert sich wie die meisten Adaptionen für Kino, TV und Rundfunk auf die Entlarvung des Pärchens – hier „Dr. Frank Crippen“ und „Lucie Talbot“ – an Bord der „Montrose“ und führt dabei einen aufmerksamen Steward ein, der sich in Lucie verguckt hat. Hier hat sich Crippen als Priester verkleidet und gibt seine Geliebte als seinen Sohn aus; die Mannschaft muss sich einige Tricks einfallen lassen, um den mörderischen Arzt zu überführen. Während der anschließenden, turbulenten Gerichtsverhandlung in London ist es Lucie, die den entscheidenden Hinweis auf seine Schuld liefert – sie selbst steht außerhalb jeden Verdachts, was neben einer unbeholfen erzählten Nebenhandlung um eine falsche Spur im anrüchigen Theatermilieu mit die drastischste Abweichung zu den authentischen Ereignissen darstellen dürfte.
Dass die meisten unter dem NS-Regime entstandenen Filme dezidiert unpolitisch sind, ist bekanntlich in sich eine politische Entscheidung; 1942 wurde der Kriegsverlauf immer übler und ablenkende Unterhaltung von Goebbels ausdrücklich für staatspolitisch wichtig erklärt. DR. CRIPPEN AN BORD zählt zu den zehn bekanntesten der in diesem Jahr entstandenen 64 deutschen Filme sowie zu den ideologisch vermeintlich harmlosen Werken unter den NS-Filmen und erfuhr in den 50ern einen (halbwegs) erfolgreichen Wiedereinsatz (das der DVD beiliegende Programmheft stammt aus dieser Zeit), der Erich Engels die Regie einer fiktiven Fortsetzung DR. CRIPPEN LEBT! (1957) einbrachte. Seine Provenienz indes kann der Film nicht verleugnen. Düsternis gab es im NS-Film nicht; so ist der Film-Noir-würdige Stoff in ein taghell ausgeleuchtetes Melodram im üblichen Ufa-Operettenstil eingebettet und die Entlarvung von Crippens als Mann verkleideter Geliebter wird zur frivolen Komödie: Da der Steward sich zu dem angeblichen jungen Mann hingezogen fühlt, kann es sich nur um eine verkleidete Frau handeln – jede Suggestion von Homosexualität wäre undenkbar gewesen. Einzig der umstrittene Rudolf Fernau in der Titelrolle bringt mit einer nuancierten Darstellung etwas Dämonie in den Film, der ohne ihn sicher nicht zu solchem Ruhm gelangt wäre. Fernau blieb in Erinnerung und bereicherte viele Jahre später einige Genrefilme aus der Mabuse-Reihe der CCC und der Wallace-Reihe der Rialto durch seine Mitwirkung. Schön, dass auch der Film, mit dem er Filmgeschichte schrieb, mit dieser Veröffentlichung wieder zugänglich wird.
Wer sich intensiver mit dem Themenkomplex um den Kriminalfilm im „3. Reich“ beschäftigen möchte, sei hier zudem auf die beiden Vorkriegsfilme Erich Engels’ MORDSACHE HOLM und SHERLOCK HOLMES – DIE GRAUE DAME verwiesen, die seit längerem in einer wenig bekannten DVD-Edition erhältlich sind.
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Dr. Crippen an Bord, Deutschland 1942, R: Erich Engels, D: Rudolf Fernau, René Deltgen, Gertrud Meyen, Paul Dahlke, O.E. Hasse, u.a.
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