Von Sir Real
Im verödeten Stadtteil Rostock-Lichtenhagen randaliert die arbeitslose Jugendclique um den stillen Stefan gegen Zigeuner im Asylantenheim. Stefans Lokalpolitiker-Vater, Behörden und Polizei sind mit der Situation überfordert. Am 24. August greift der Mob das von Vietnamesen bewohnte Sonnenblumenhaus an.
So ausdrucksstarke Charaktere haben im deutschen Film Seltenheitswert – gleiches gilt für den souveränen bis bravourösen Stil, mit dem Burhan Qurbani, Sohn afghanischer Einwanderer, nach SHAHADA seine Könnerschaft eindrucksvoll bestätigt. Er liefert keine Anklage mit einfachen Antworten und klarer Schuldzuweisung, sondern ein eindringliches Gesellschaftsbild, keine monokausale, sondern eine mutlifaktorielle Chronik.
In WIR SIND JUNG. WIR SIND STARK. trifft Sozialrealismus in hypnotischem Schwarzweiß auf multiperspektivische, in Trance überhöhte Ereignisse, durch die ein Elektroscore pulst. Das Unheil kündigt sich in vielen Facetten an und gebiert eine Atmosphäre, die sparsam und luftabschnürend eine poetisch-zeitdiagnostische Studie von Lebenswelt und Mentalität entwirft. Die Technik stellt Qurbani in den Dienst seines mitverfassten Scripts.
So entsteht ein mit einem intensiven Ensemble besetztes Panorama, angefangen beim introvertierten Stefan (Jonas Ney, HIRNGESPINSTER) und seiner Clique aus Provokateuren, Gelangweilten, Neonazis und Mitläufern; Devid Striesow (ZEIT DER KANNIBALEN) als sein unentschlossener Vater steht für das Versagen von Politik und Behörden, die die Verantwortung auf die Bevölkerung abwälzen, deren Gewalt in Tagen des Zorns eskaliert.
Ihr Hass auf Zigeuner, die rechtzeitig evakuiert werden, entläd sich ersatzweise auf die Vertragsarbeiter aus Vietnam nebenan, auf Lien (Trang Le Hong), deren Bruder samt schwangerer Schwägerin eigentlich heimkehren will. Die Wut gegen einen Staat, „der sich mehr um Asylanten sorgt, als um seine Landsleute“ findet ihr Ventil in der berüchtigten Pogrom-Nacht, wo die Vorurteile in Brandstiftung ausarten und das Schwarzweiß in Farbe wechselt.
Ausgewogen und bedacht beleuchtet Qurbani aller Verhalten, vermeidet die Drastik von ROMPER STOMPER oder AMERICAN HISTORY X. Er fängt differenziert Paradoxien ein, wenn die Clique beim Ausflug erst den Rechtsrock-Ohrwurm „Deutschland, ein Volk stirbt aus“ und im Anschluss „Die Internationale“ – ebenfalls ein Ohrwurm – begeistert singt. Derartige Ambivalenzen beeindrucken zusätzlich.
Aber auch die Verlorenheit von Stefan, dessen Freund sich aus Hoffnungslosigkeit in den Tod gestürzt hat. Dass Qurbani ihm sensibel begegnet, bedeutet keine Absolution oder Erweckung falscher Sympathien. Drei Zitate bezeichnen prägnant die Entwicklung dieses Tages: Anfangs „Wir sollten gar nicht hier sein“, mittig „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“ und am Ende „Scheiß auf früher, wir machen einfach alles kaputt.“
Erschienen auf Komm & Sieh
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Wir sind jung. Wir sind stark., Deutschland 2014 | Regie: Burhan Qurbani, Buch: Martin Behnke, Burhan Qurbani | Mit: Devid Striesow, Jonas Nay, Trang Le Hong, u.a. | Laufzeit: 123 Minuten, Verleih: Zorro (Kinostart: 22.01.2015).