Bürgerkrieg als Survival-Erfahrung. Von Thorsten Krüger

Von Thorsten Krüger

Der frisch ausgebildete britische Rekrut Gary wird 1971 in die nordirische Bürgerkriegsstadt Belfast versetzt, bei Ausschreitungen von seiner Einheit getrennt und von IRA-Terroristen durch die Straßen gejagt. Ohne genaue Ortskenntnis muss er die nächste Nacht überstehen, weiß nicht, wer Helfer, wer Verräter ist.

'71.2014.cover Die Explosivität des Konfessions-Konflikts Anfang der 1970er Jahre kulminiert im auf 24 Stunden komprimierten urbanen Überlebens-Thriller des parisstämmigen Serienregisseurs Yann Demange in seinem für den Goldenen Bären und den Europäischen Filmpreis nominierten Kinodebüt. ’71 löst zwar nicht die Erschütterung von Paul Greengrass’ BLOODY SUNDAY aus, entlarvt aber die Unmenschlichkeit auf allen Seiten schonungslos.

Aus der Perspektive eines Jungsoldaten stürzt sich die Handkamera ins Chaos brennender Barrikaden und von eskalierendem Hass, verliert optisch nie die Übersicht, während die zerstrittenen Konfliktparteien undurchschaubar agieren. Waisenjunge Gary, ohne weitere Erklärung abkommandiert, wird Zeuge von Misshandlungen in einem Belfast, das an Beirut oder den Gazastreifen erinnert, wo Briten wie Israelis als Besatzer auftreten.

Den martialischen Menschenrechtsverletzern und ihrem Staatsterror steht die im Zivilen versteckte Untergrundarmee IRA gegenüber, rücksichtslos brutal wie die Terrororganisation Hamas. Sie richten Garys Kameraden auf offener Straße hin und jagen ihn etappenweise. Ein Junge im gleichen Alter wie sein Bruder, den er im Waisenhaus zurücklassen musste, rettet ihn und stirbt in einem Pub, weil eine Bombe nebenan zu früh detoniert.

'71.2014.still Eine einprägsame Szene – danach stolpert Gary (Jack O’Connell aus STARRED UP, wo er mehr Charakter entwickeln durfte) durch eine gespenstische Nacht. Wegen ihm müssen weitere Menschen sterben, gerechte wie ungerechte. Barmherzigkeit bestrafen seine Verfolger bitter, ein Pärchen, das ihn notoperiert und ein Mann in seinem Alter, der Gnade zeigt und ihn vor dem Tod bewahrt, haben in der tödlichen Kriegslogik keine Chance.

Manche Motive sind schwach, die Dramatik nicht immer packend, dunkle Suspense-Bässe und die Poesie nächtlicher Verlorenheit aber lassen Gary nie außer Gefahr, weil die Mörderbande nur einen Telefonat entfernt lauert und die Vorgesetzten ihn im Stich lassen. Auch als er einen Gleichaltrigen in Notwehr unabsichtlich ersticht, vertieft sich ein Trauma, das sich aller Heroik versagt und damit die Anti-Armee-Haltung bestärkt.

Erschienen auf Komm & Sieh

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’71 (’71 – Hinter feindlichen Linien), Großbritannien 2014 | Regie: Yann Demange, Buch: Gregory Burke | Mit: Jack O’Connell, Sam Reid, Sean Harris, u.a. | Laufzeit: 99 Minuten, Verleih: Ascot Elite (noch kein Starttermin).