Sanbabilini – Wir Kinder von der Piazza San Babila.

Italien brodelt! Die studentische Linke sympathisiert mit dem Kommunismus, Pläne zum sozialistischen Staatstreich werden geschmiedet. Zeitgleich formiert sich die konträre Rechte der oberen Zehntausend, der Faschismus erstarkt zu neuer Kraft. Mord, Terror, Gewalt – ab Ende der 1960er bis tief in die 1970er Jahre legen sich Angst und Schrecken über das Land. Während in der BRD Attacken auf den Staat von Links geritten werden, kommt der Angriff im fußballbegeisterten Italien sozusagen ‚über Rechts‘. Die Gesellschaft steht kurz vor der Implosion, die Mailänder Piazza San Babila ist das Epizentrum des römischen Neofaschismus. Dieser Film portraitiert die ‚Sanbabilini‘, vier Jungs der Oberschicht; er schildert 24 Stunden aus dem Treiben rund um diesen Platz, spiegelt ein Land im Ausnahmezustand … und am Ende des Tages ist nichts mehr so, wie es einmal war!

san.babila.ore.20.un.delitto.inutile.1976.cover „Alle Vorfälle, die sich an jenem Tag an der Piazza San Babila ereigneten, basieren auf mehreren Taten, die sich in Mailand zutrugen.“ Mit dieser, dem Film vorangestellten Schrifttafel, beginnt ein faszinierender Blick in eines der düstersten Kapitel der jüngeren italienischen Geschichte. Bei Carlo Lizzani hat sich die Gesellschaft endgültig ins Nirwana der Entmenschlichung verabschiedet; die faktische Sattheit gebiert neuen Nährboden für radikale Umtriebe. Bedeutungsentkernte Floskeln und inhaltsleere Scheißhausparolen bestimmen die Äußerungen der vier Jugendlichen, die stellvertretend für einzelne Gesellschaftsschichten stehen. Es mischt sich Gebaren von Herrenrasse mit Naziideologie, Sadismen und Ablehnung aller Andersartigkeit. Worte werden zu Symbolen, aus Insignien werden Taten – die Spirale dreht sich unaufhörlich weiter. Während kommunistische Umtriebe der Studenten blutig niedergeknüppelt werden, blickt die Polizei duldsam auf neofaschistische Umtriebe; selten wurde stillschweigende Zustimmung pervertierter ausgelegt. Hier ist wahrlich Matthäi am Letzten – sämtliche Messen sind gesungen, der Klingelbeutel geht final in die Runde.

Lizzani übernimmt mit seinem Kinofilm – in Zeiten der gleichgeschalteten Medien jener Jahre – die Position des investigativen Journalisten. Er geht dahin, wo es wehtut; direkt auf der titelgebenden Piazza und sämtlich an Originalschauplätze. Dem Regisseur geht es nicht um die Unterhaltung per se: Er bedient sich der Machart eines Genrefilms bis hin zu intertextuellen Bezügen und führt sie zugunsten einer inhaltlichen Befassung ad absurdum. Keine überflüssige Schauspielkunst, keine unnötige Künstlichkeit. Die Kamera dringt nur partiell ins Subjektive, bleibt jedoch oft bewusst statisch; es ist hochinteressant dargestellte, filmisch aufbereitete Wirklichkeit. Lizzani zeigt die hässliche Fratze des italienischen Faschismus, dokumentiert lediglich, wertet nicht, stellt nur Fragen – Antworten zu finden bleibt dem Zuschauer überlassen.

san.babila.ore.20.un.delitto.inutile.1976.still3 Die Darsteller, zum größten Teil Laien und von beeindruckender Natürlichkeit, leisten Großartiges, die sonst auf das Starletdasein abgestellte Brigitte Skay liefert mit ihrer Portraitierung des höchst doppelbödig gestalteten Anhängsels die eindrücklichste Performance ihrer Karriere ab. Kameramann Pier Giorgio Pozzi macht seine Aufnahmen frei von aller Schmuckigkeit; seine Arriflex ist vital, die Realität kann sich frei entfalten. Die Unmittelbarkeit springt förmlich von der Leinwand, der Zuschauer hat keine Chance, vom Gezeigten nicht ‚angepackt‘ zu werden. Lizzani lässt, Jahrzehnte nach seiner eigentlichen Blüte, noch einmal den Geist des Neorealismus durch die Filmtheater wehen.

Die Musik vom legendären Ennio Morricone, im Wesentlichen aus einem fast konterkarierenden Marsch bestehend, stellt sich ebenso in den Dienst der Sache; sie schiebt sich nicht vor das Bild, sondern verspachtelt quasi die letzten Fugen. Die 1999 bei GDM erschienene Combo-CD enthält zusätzlich seinen Score zu Lizzanis STORIE DI VITA E MALAVITA (Racket della prostituzione minorile) / Straßenmädchen-Report (1975), ist mittlerweile vergriffen und eine gesuchte Rarität.

san.babila.ore.20.un.delitto.inutile.1976.still2 Wie von Camera Obscura gewohnt, bietet man dieses Meisterwerk in optimaler Form an. Parallel auf DVD und Blu-ray veröffentlicht, präsentiert sich der Transfer in sauberster Qualität, erreicht in Schärfe, Kontrast und Farbwiedergabe Bestwerte – der Erhalt des originalen Filmkorns ist obligat. Der italienische Originalton, wahlweise mit deutschen und englischen Untertiteln, gibt sich sauber, lässt die Dialoge ebenso verständlich erklingen wie den dynamischen Soundtrack. Dem stellen die Labelmacher ein opulentes Bonuspaket anheim, dessen Herzstück ein höchst informativer Audiokommentar der Filmhistoriker Dr. Marcus Stiglegger und Kai Naumann darstellt; die Einordnung des Filmes in den historischen Kontext, die Hinweise auf technische Finessen der Herstellung – hier bekommt man gebündelte Informationen in ansprechender Vortragsform. Die Featurette ‚An Age of Violence‘ mit Darsteller/Regieassistent Gilberto Squizzato füllt sich mit Begebenheiten vom Dreh und der Zusammenarbeit mit Lizzani, während Christian Kesslers zweisprachiger Bookletessay sehr gut den Weg vieler Italofans nachzeichnen dürfte – man erkennt sich darin wieder. Der italienische Trailer, eine Locations Tour sowie umfangreiche Bildangebote komplettieren die Ausstattung, die sich wiederholt als Referenzklasse erweist.

Die am Release Beteiligten bekunden allenthalben die Wichtigkeit dieser Veröffentlichung. Zu Recht, denn diesem Meisterwerk von Carlo Lizzani gebührt ein Platz in jeder Bestenliste des Italokinos. Ein schonungsloses Portrait jener Zeit, als die italienische Gesellschaft an allen Seiten bröckelte und langsam vor sich hin faulte. Selten ist Geschichtsunterricht packender und unterhaltsamer bebildert worden. Mag das titelgebende VERBRECHEN sinnlos sein, dieser Film ist es keinesfalls. Er sollte in keiner Sammlung fehlen!

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San Babila Ore 20: Un Delitto Inutile, Italien 1976, Regie: Carlo Lizzani, Mit: Daniele Asti, Giuliano Cesareo, Pietro Brambilla, Pietro Giannuso, Brigitte Skay, Gilberto Squizzato u.a.

Anbieter: Camera Obscura