Schwarz zu blau. Von Heinz-Jürgen Köhler

Von Heinz-Jürgen Köhler

Bamm, bamm, bamm. Der Techno-Beat knallt aus den Boxen, Stroboskop-Licht zuckt durchs Kino. So nah wie dieser jungen Tanzenden wird die Kamera den Protagonisten die nächsten 140 Minuten sein, in diesem wilden, rasenden, mitreißenden Tempo-Film. Victoria (Laia Costa) lebt als Spanierin in Berlin. Vor dem Techno-Club trifft sie vier Jungs: Sonne (Frederick Lau), ein gutmütiger, schlitzohriger Bursche; Boxer (Franz Rogowski), ein kräftiger Glatzkopf, Typ: großes Kind in trainiertem Körper; Blinker (Burak Yigit), ein Schönling mit langen gewellten Haaren und einer Motorradlederjacke; Fuß (Max Mauff), ein netter, eher unauffälliger Knabe. Lehrlinge, Arbeiter, Migranten? Wir erfahren es nicht, es spielt keine Rolle. Die Vier stehen für einen bunten Querschnitt durch das heutige Berlin abseits hipper, intellektueller Prenzlberg-Kreise. „We are Berlin guys“, erklärt Sonne der jungen Spanierin, die kein Deutsch spricht. „Not Zugezogene“.

victoria.2015.cover Zu fünft lassen sie sich durch die Berliner Nacht treiben, klauen Bier in einem Kiosk, sitzen auf einem Häuserdach und genießen die Nacht. Fuß feiert seinen Geburtstag, ist bald randvoll und nicht mehr ansprechbar. Die anderen Vier machen weiter. Die Magie der durchgemachten Nacht, der Dreck in der langsam erwachenden Stadt: Diese Themen werden gestreift und erinnern ein bisschen an Peter Fox’ Berlin-Hymne „Schwarz zu blau“. Doch dann entwickelt sich eine handfeste Genre-Geschichte. Denn: Boxer war mal im Gefängnis und da ist noch eine Rechnung offen… Bei alldem bleibt die Kamera ganz nah bei ihnen, umkreist sie, rennt mit, wackelt, riskiert unscharf zu werden und vermeintlich unkorrekte Bildausschnitte einzufangen. Und es wird nicht geschnitten.

victoria.2015.still2 Der „One Take“ ist ein Mythos der Filmgeschichte, der Film, der ohne jeden Schnitt in einer einzigen Einstellung gedreht ist. Der Schnitt, die Montage ist sicher eines der wirkungsvollsten filmischen Erzählmittel – und auf dieses ganz zu verzichten ein starkes Statement. Das erste und vielleicht berühmteste Beispiel eines Spielfilms als „One Take“ ist Hitchcocks ROPE (USA 1948). Bedingt durch die Länge der in einer Kamera zu belichtenden Filmrolle musste der Meisterregisseur allerdings alle zehn Minuten verdeckte Schnitte vornehmen. Die digitale Filmtechnik ermöglicht nun einen echten One Take.

Der Filmschnitt ist das Mittel, um die Zeit zu strukturieren: Vor-, Rückblenden und Zeitsprünge. Beim One Take ist die Erzählzeit identisch mit der erzählten Zeit. Die 140 (sehr kurzen!) Minuten der Filmlaufzeit begleiten wir die Protagonisten durch 140 randvoll mit Erlebnissen vollgepackte Minuten ihrer Nacht und sind – auch Dank der gegenüber Hitchcocks Filmkamera deutlich kleineren und handlicheren Digitalkamera – immer mitten im Geschehen. Regisseur Sebastian Schipper, der schon in seinem Regieerstling ABSOLUTE GIGANTEN (1999) eine einzige bedeutende Nacht in – freilich konventionellerer Form – erzählte, gönnt den Zuschauern kurze Verschnaufpausen, wenn er mehrfach vorübergehende Distanz schafft und Musik aus dem Off verwendet. Nur um sich hinterher allerdings noch wilder ins Getümmel zu stürzen.

victoria.2015.still3 Ganze zwölf Seiten umfasste das Drehbuch, die Dialoge entwickelten Schauspieler und Regisseur bei den Proben. Zweimal wurde das Ganze gedreht, begutachtet, und Verbesserungsmöglichkeiten wurden entwickelt. Der dritte Durchgang wurde dann genommen. Das Ergebnis ist schier überwältigend, ein Film, der in selten gesehener Radikalität direkt und unmittelbar daherkommt. Und man weiß nicht, was man mehr rühmen soll: den Mut von Regisseur, Co-Autor und Co-Produzent Schipper, dieses Projekt umzusetzen, oder die virtuose Leistung des technischen Teams (Silberner Berlinale-Bär für Kameramann Sturla Brandth Grøvlen) sowie der Darsteller. Denn bei aller technischen Brillanz – auch für die Darsteller war VICTORIA eine Tour de Force, die sie allesamt mit Bravour bestehen. Wow!

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Victoria, Deutschland 2015 | Regie: Sebastian Schipper, Buch: Olivia Neergaard-Holm, Sebastian Schipper, Eike Frederik Schulz | Mit: Laia Costa, Frederick Lau, Franz Rogowski, Burak Yigit, Max Mauff, André M. Hennicke | Laufzeit: 140 Min. | Verleih: Senator (Kinostart 11.06.2015)