Stumme Schreie in der ‚Goldenen Stadt‘.

Im Prager Stadtpark wird der leblose Körper des Auslandsjournalisten Gregory Moore (Jean Sorel) aufgefunden und zur Untersuchung ins Leichenschauhaus transportiert. Was jedoch niemand ahnt: Moore ist nicht tot, er lebt – jedoch ist er unfähig, sich zu bewegen oder auch nur mit seiner Umwelt zu kommunizieren. So sehr es die Ärzte wundert, dass weder die Körpertemperatur sinkt noch die Leichenstarre einsetzt, so routiniert wird der Mann als lebender Leichnam für die Obduktion vorbereitet. Moores einzige Möglichkeit auf Rettung liegt in seiner verschwommenen Erinnerung an die letzten Tage und Ereignisse vor seinem letalen Zustand. Schemenhaft stellt er sich Fragen: wie ist er in diese Lage gekommen? Was ist mit ihm geschehen? Die Antwort hat etwas mit einer mysteriösen Entführungsserie zu tun, die die Stadt in Atem hält – und das, was er sich Stück für Stück zusammenreimt, ist nicht weniger als das pure Grauen!

Cover-MALASTRANA Mit einem Debutfilm auf Anhieb einen Klassiker des Genres und schlicht ein Meisterwerk auf die Beine zu stellen, das ist die hohe Kunst des Filmemachers! Regisseur Aldo Lado, der auch das Drehbuch mitverfasste, gelang mit MALASTRANA dieses seltene Kunststück. Nie weder war er so souverän, kein zweites Mal trafen so glückliche Umstände zusammen – das ein Mann mit seiner Begabung später unterhaltsam-trashige, jedoch im Grunde quarkige Vehikel wie L’UMANODIE (1979, KAMPF UM DIE 5. GALAXIS) drehen musste, spricht für den Niedergang einer ganzen Filmindustrie. Doch bei MALASTRANA ist Lado auf der Höhe seines Könnens: ständig offenbart die Kamera von Giuseppe Ruzzolini die schaurige Schönheit des heruntergekommenen Prag, geschickt wird mit Licht und Schatten gespielt. Man hat das Gefühl, der Schwamm in den Gemäuern arbeitet sich aus dem Bildschirm heraus in die Jetztzeit. In dieses Labyrinth aus Stein und der immerwährend fließenden Moldau pflanzt Lado eine atypische Giallo-Geschichte mit okkulten Einsprengseln. Fernab gängiger Muster des Whodunit-Thrillers erzählt der Film nicht nur von der Suche nach dem Täter, sondern zeichnet darüber hinaus auch ein düsteres Portrait der ‚goldenen Stadt‘. Nichts ist so wie es scheint! Genau wie Gregory, der seine Erinnerungsfetzen rekonstruiert und zusammenpuzzlet, folgt der Zuschauer den immer neuen Wendungen und Überraschungen – und wird mehr als einmal düpiert und hinters Licht geführt.

Die Darsteller werden von Lado ebenfalls geschickt in Szene gesetzt. Jean Sorel spielt als lebender Toter/toter Lebender mithin seine beste Rolle. Die titelgebenden ‚Bambole‘ – jene Schmetterlinge, deren jugendhafte Schönheit in der ansonsten kaputten Szenerie umso befremdlicher wirkt – werden von Ingrid Thulin und Barbara Bach auf faszinierende Art und Weise verkörpert. Als nette Dreingaben überzeugen Mario Adorf und zum wiederholten Male Jürgen Drews in einer Gastrolle. Die deutsche Synchronisation ist ebenfalls ein Schmuckstück und speziell Christian Brückner erweist sich für Jean Sorel als Traumbesetzung.

MALASTRANA-03 Für die atemberaubende Musikuntermalung griff sich Lado nicht weniger als das Dream-Team des italienischen Filmscorings: während Ennio Morricone als Tonsetzer seinen für dieses Genre entwickelten Stil mit märchenhaft-kindlichem Hauptthema und spannenden 12-Ton-Flächen verfertigte und dem Streifen unglaubliche Atmosphäre beimengte, erhob seine langjährige Partnerin Edda Dell’Orso ihre wundervolle Stimme und veredelte einen weiteren Soundtrack des Meister. Sämtliche Auflagen der Partitur sind mittlerweile ausverkauft und nur noch antiquarisch verfügbar.

Die Begleitumstände und technische Ausstattung dieser Veröffentlichung verdienen diesmal eine etwas genauere Betrachtung. Bereits 2006 erschien MALASTRANA bei KochMedia auf einer für damalige Verhältnisse sehr anständigen DVD. Doch in Zeiten von HD und großformatigen Bildschirmdiagonalen war es am rührigen Label Camera Obscura, dieses Meistwerk wieder auf Stand zu bringen. Diverse Widrigkeiten setzten der Neuveröffentlichung zu: erst zeigte sich das noch vorhandene Originalfilmmaterial in schlechtem Zustand, dann erhielten die ersten Screenshots der Abtastung in diversen Filmforen negative Kritiken. Doch anstatt diese Anwürfe auszusitzen, stellte das Label die Produktion auf Anfang zurück und ließ kostenaufwändig eine neue Abtastung vornehmen, die restlos überzeugte – MALASTRANA, nun erstmals ungekürzt parallel auf DVD und vorzuziehender Blu-ray erschienen, sah niemals besser aus und entfaltete seine schiere Brillanz nie stärker als auf dieser Veröffentlichung. Der im originalen Breitbildformat erstellte Transfer hat Referenzqualität, neben dem italienischen Ton ist auch die zeitgenössischem deutsche Kinosynchronisation vorhanden – selbst die technischen Problematiken dieser Tonspur wurden soweit wie möglich beseitigt.

MALASTRANA-02 Die beigefügte Bonus-DVD zeigt sich randvoll mit Extras und Featurettes: in „Czech Mate“ erzählen Regisseur/Drehbuchautor Aldo Lado und Hauptdarsteller Jean Sorel von den Dreharbeiten, in „Einmal Italien und zurück“ kommt der deutsche Co-Produzent Dieter Geissler zu Wort, der ebenfalls in Plauderlaune ist. Der Schnitt-meister Mario Morra geht in „Cutting Glass Dolls“ berufsbedingt vor allem auf die technischen Aspekte der Filmherstellung ein, während Edda Dell’Orso – die wundervollste Stimme der italienischen Filmmusik – in „The Need to Sing“ eines ihrer raren Interviews gibt. Außerdem sind zwei Audiokommentare enthalten, wobei sich die Filmgelehrten Christian Keßler und Dr. Marcus Stiglegger wiederum als Traumpaar erweisen. Der von der alten KochMedia-DVD übernommene Audiokommentar von Darsteller/Sänger Jürgen Drews gewinnt durch dessen sympathische Art. Aldo Lado höchstselbst kommentiert wiederum zusätzlich einige ausgewählte Filmszenen. Englischer und italienischer Trailer, eine umfangreiche Bildergalerie sowie ein kenntnisreiches Booklet von Kai Naumann runden das pralle Paket ab. Sämtliche Extras dieser auf 2000 Exemplare limitierten Veröffentlichungen finden mit englischen und/oder deutschen Untertiteln statt.

Was DON’T LOOK NOW (1973, WENN DIE GONDELN TRAUER TRAGEN) für Venedig ist, das ist MALASTRANA für Prag – ein Film, der in seiner geheimnisvollen Erzählweise und grotesken Schönheit Urängste freilegt. Ein Film, der das italienische Genrekino mit all seinen Kniffen und Tricks in Perfektion zeigt. Wer sich dem Bann des Filmes bisher entziehen konnte – mit dieser Veröffentlichung wird das fürderhin keinem Zuschauer mehr gelingen!

___________________________________________________________

La corta notte delle bambole di vetro, I/D/YUG 1971, R: Aldo Lado, D: Ingrid Thulin, Jean Sorel, Mario Adorf, Barbara Bach, Jürgen Drews, Fabijan Sovagovic

Anbieter: Camera Obscura