Von Matthias Ehrlicher
WIR WAREN KÖNIGE ist ein Film, der nicht in Vergessenheit geraten sollte. Nur ganze 10.601 Kinokarten wurden verkauft… Es gibt online zum Teil vernichtende Kommentare, aber überwiegend sehr positive Rezensionen in der Print-Presse. Deshalb hier der Versuch, wenigstens der DVD und Blu-ray die Aufmerksamkeit zu verschaffen, die diesem Film gebührt. Meiner Meinung nach handelt es sich um ein Kleinod, das Regisseur und Drehbuchautor Philipp Leinemann uns mit seinem zweiten Spielfilm da an die Hand gegeben hat. Eines, das bei allen kleineren und größeren Patzern zeigt, dass es ein gutes deutsches Thriller-Genrekino gibt. Auch bei bescheidenem Budget!
Der Plot besteht aus drei Strängen. Einer teilweise korrupten SEK-Einheit, zwei sich bekämpfenden, ethnisch gemischten Jugendgangs und – dieser Einfall ist nicht hoch genug zu loben – des sich nach Liebe und Aufmerksamkeit verzehrenden dreizehnjährigen Nasim. Der Schauplatz ist eine nicht weiter benannte Großstadt irgendwo in Mitteldeutschland. Trostlos, öde. Atmosphärisch dicht eingefangen vom Kameramann Christian Stangassinger.
Nasim, hervorragend dargestellt von Mohamed Issa, ist der Dreh- und Angelpunkt der Geschichte. Bei ihm läuft alle explosive Masse des Plots zusammen und durch ihn wird diese Mischung schlussendlich und bewundernswert konsequent gebaut alle in den Abgrund reißen. Den SEK-Trupp könnte man oberflächlich als eine testosterongetränkte Junge-Männer-Phantasie betrachten. Die Typen sind die Könige. Bei der Polizei, auf der Straße. Sie sind die Harten, kämpfen an vorderster Front, ballern wild auf der Straße rum, können Schnaps literweise saufen und noch gerade gehen. Denn bevor man eine Kneipenschlägerei mit der Jugend aus dem Viertel anfängt, feiert man besser zusammen. Echte Kerle eben. Doch das alleine ist Leinemann nicht genug. Auch ihn interessiert es dahin zu gehen, wo es wehtut. Den Figuren, den Zuschauern.
Denn das Image der Helden bekommt Risse. Die von den Kollegen diffamierend als die „SEKies“ bezeichnete Truppe versaut einen Zugriff. Es gibt einen verletzten Polizisten, einen toten Kriminellen und einen auf der Flucht. Etwas später werden zwei Mitglieder der Einheit erschossen aufgefunden. Panik macht sich breit. Denn es lassen sich zuerst keinerlei Motive für die Tat ermitteln. Die beiden Chefs der Einheit (gewohnt souverän gespielt von Thomas Thieme und Bernhard Schütz) wollen daraus Konsequenzen ziehen. Sie planen Umstrukturierungsmaßnahmen, bei denen auch der Anführer der Truppe Mendes (Misel Maticevic) auf der Strecke bleiben könnte. Das will der mit aller Macht verhindern. Denn dabei könnte eine weitere Leiche, aber diesmal in seinem Keller, gefunden werden. Auch dem SEK-Mitglied Kevin (Ronald Zehrfeld) kommen seine Freunde und Kollegen langsam verdächtig vor. Zuerst will er aus Korpsgeist dem Gedanken keine Taten folgen lassen. Ein folgenschwerer Fehler, denn einige der Jungs, auch Mendes, unterschlagen regelmäßig Diebesgut und verticken es auf eigene Rechnung. Also muss der Mord an den Kollegen schnell und vor allen Dingen von den „SEKies“ selbst aufgeklärt werden, damit keine unangenehmen Fragen gestellt werden.
Hier kommt nun Nasim ins Spiel. Sein größter Wunsch ist es von Thorsten (Tilman Strauss), dem Anführer einer der Jugendgangs als Freund akzeptiert zu werden. Dieser Wunsch nach Anerkennung – nach Vaterliebe – lässt ihn bis zum Äußersten gehen. Thorsten ist eigentlich dabei, aus dem Leben als Kleinkrimineller auszusteigen. Gerade auf Bewährung entlassen, will er mit seiner Freundin ein neues Leben beginnen. Da kann er den anhänglichen Jungen nicht gebrauchen. Das spürt auch Nasim. Also präsentiert Nasim der Polizei Thorstens Freund Ioannis (Oliver Konietzny) als den mutmaßlichen Polizistenmörder. In seinem kindlichen Denken hofft er, Thorsten wird nicht weggehen, wenn sein Freund Probleme hat. Außerdem kann er ihm helfen, Ioannis zu entlasten und Thorsten wird dann endlich sein Freund werden.
Der Plan funktioniert, aber anders als gedacht. Das SEK-Team schnappt sich Ioannis und schlägt ihn aus Rache krankenhausreif. Doch der kann schwer verletzt entkommen und taucht ab. Die nächste Schlappe für das SEK. Zuerst vermutet Kevin, Ioannis sei ihretwegen tot. Doch es gibt keine Leiche. Die Nerven liegen blank.
Auch Thorsten kann sich das Verschwinden des Freundes nicht erklären. Für die Leute seiner Gang ist die Sache klar, das waren die Konkurrenten von Jaceks Haufen (Frederik Lau). Obwohl Thorsten es zuerst verhindern will, beginnt ein Kleinkrieg zwischen den beiden Gruppen. Nasim, in seinem Liebesbedürfnis zu Thorsten, stachelt den Konflikt bis zum bitteren Ende an.
Völlig ungewöhnlich ist, dass Leinemann die Konflikte um das SEK und den Jugendgangs in keiner Weise verknüpft. Üblich wäre es, beide Plots im dritten Akt zusammenzuführen und auf einen gemeinsamen Showdown hinzuwirken. Genau das macht er nicht. Die beiden Filmstränge sind durch Nasim ins Rollen geraten und kommen nicht mehr zusammen. Es sind Parallelwelten, die gleich ticken, gleich handeln, gleich absaufen in der selbst angerührten Mischung aus Stolz, Überforderung, Selbstüberschätzung und krimineller Energie. Beide Seiten suchen fieberhaft nach dem verschwundenen Jungen und verheddern sich mehr und mehr in ihren internen Konflikten, bis sie tödlich enden.
Ronald Zehrfelds Figur Kevin bekommt bei seinen Mordermittlungen immer mehr Zweifel, dass der verschwundene Junge der Täter ist. Er wird sogar einen Beweis dagegen finden. Doch sein Boss Mendes braucht den Jungen als Täter. Deswegen kommt es zu handfesten Auseinandersetzungen der beiden. Leider bleiben die zwei großartigen Schauspieler Ronald Zehrfeld und Misel Maticevic in dieser Produktion deutlich – und nicht zu ersten Mal – hinter dem zurück, was sie eigentlich können. Schade.
Was den Film so bedeutend macht, ist, dass er uns nicht Genre von der Stange zeigt, sondern eine klare und eigene Regiehandschrift präsentiert. Leinemann vermeidet jegliches Klischee. Auch wenn einige Handlungsstränge etwas gewollt erscheinen mögen, bleiben die Figuren immer glaubhaft. Gut und Böse, richtig und falsch verschwimmen. Der Zuschauer bleibt die ganze Zeit bei der eigentlichen Hauptfigur Nasim und ahnt ständig, dass das nicht gut ausgehen kann. Und deshalb wird man das Ende des Films, so brutal, so konsequent, so überraschend und doch nachvollziehbar es ist, nicht vergessen.
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Wir waren Könige, BRD 2014, R: Philipp Leinemann, D: Ronald Zehrfeld, Misel Maticevic, Hendrik Duryn, Bernhard Schütz, Thomas Thieme, Urs Rechn, Godehard Giese, Simon Werner, Torben Liebrecht, Jorres Risse, Felix Goeser, Frederick Lau u.a.
Anbieter: Universum Film GmbH