Das Auge. Jenes Sinnesorgan, dessen Schutzwürdigkeit dem Menschen am Nächsten ist. Das Sehen, mit das kostbarste Gut. Und auch wenn alles andere versagt – die Selbstbeherrschung, die Ratio, das logische Denken – ein letzter Ausweg bleibt dem Menschen: er schließt die Augen und es ist … nichts. Nicht ganz schwarz zwar, aber alles Unbehagliche ist einfach nicht mehr zu sehen – es ist nicht mehr da. Ein Selbstbetrug zwar, doch wen kümmert das. Doch wie wäre es, wenn einem diese Möglichkeit genommen würde, wäre man schutzlos – wenn man sehen, hinsehen muss, weil sich einem kein anderer Ausweg bietet. Eine Horrorvorstellung. Und was macht Dario Argento aus dieser Idee: einen Film der ganz besonderen (Horror)-Art!
Sängerin Betty (Cristina Marsillach) feiert als B-Besetzung überraschend ihr gefeiertes Debut auf der Opernbühne. Doch ihr Glück ist kurzlebig, denn urplötzlich wird sie zur Zielscheibe eines perversen Serienkillers der sie zwingt, seine Gräueltaten mitansehen zu müssen. Doch letztendlich zeigt sich, dass nicht der Hund des Menschen bester Freund ist, sondern im schwarzen Federkleid einherfliegt.
Eigentlich längst überfällig; das war bei Erscheinen OPERA für die Filmwelt. Dass ein extrem visuell arbeitender Regisseur wie Argento sich in der Kunstform Oper umtun würde – jener Kunstform also, die es bis zur Erfindung des konservierten, laufenden Bildes am Vollkommensten verstand, eine unwirkliche Wirklichkeit zu erschaffen – war folgerichtig. Als ‘Aufhänger’ für OPERA dient die Oper “Macbeth” von Giuseppe Verdi, die Argento später tatsächlich in seinem Stil für die Bühne inszenieren sollte. Zusätzlich phrasierte er das Setting mit der ‘Umkehrung’ der Grundidee aus Gaston Leroux “Das Phantom der Oper”; der begehrende Fan versucht nicht, sein Objekt der Begierde zu beschützen, sondern er verfolgt und traktiert es. Argento nimmt seiner Protagonistin die letzte Rückzugsmöglichkeit, die sich dem Menschen bietet – sie kann, darf und soll die Augen nicht vor der Realität verschließen. Diese Wirklichkeit ist Blut und Tod, Gemetzel und Sterben. Nicht zuletzt in der ikonographischen Gestaltung des Filmplakates wird dies sichtbar.
OPERA ist innerhalb der Karriere Argentos sein selbstreflexivster und persönlichster Film. Dass die Figur des im Film von Ian Charleson dargestellten, leicht exzentrischen Opernregisseurs eindeutig Argentos alter Ego darstellt, ist nur ein Beispiel für diesen Vorgang. Denn noch stärker als zuvor spielt der Filmemacher mit seinen eigenen Konventionen, lässt auch manchmal eine – vom Publikum fast erwartete – visuelle Körperzerstörung bewusst im Off geschehen und evoziert die Zuschauergefühle ausschließlich über sekundäre Gegenstände und Geräusche – dass der Horror dadurch nur umso blanker wird, liegt auf der Hand. Doch von derartigen Täuschungen abgesehen, ist OPERA der bis dahin brachialste Versuch Argentos, den Zuschauer in die Opferrolle zu drängen – man sieht nur genauso viel, wie auch die Filmfiguren; und das ist Terror und Leid genug. Zusammen mit dem für GHANDI (1982) Oscar-prämierten Kameramann Ronnie Taylor gelangen Argento wiederum effektvolle Kamerafahrten und delirierende Bildkompositionen; die entsprechende Farbgestaltung ist obligat, die Kamera zeigt uns den Point-of-View ohne Gnade.
Auffällig ist die vielsagende Beziehungslosigkeit der Filmcharaktere zueinander; von Liebe schon gar keine Rede. Wenn, dann vollzieht sich dies nur angedeutet – OPERA gerät geradezu zur unbewussten Parabel für die damals gerade aufziehende Angst vor dem AIDS-Virus. Es spricht für des Regisseurs tiefenwirksame Ausgestaltung, dass er die einzige Bindung zwischen seinen Protagonisten dem Mörder und seinem Opfer ermöglicht – vielsagend für das Terrorkino aus Italien.
Jahrelang nur in diesem Meisterwerk nicht würdigen Veröffentlichungen erhältlich, erfährt OPERA jetzt als DVD-/Blu-ray-Combo eine definitive Edition. Der italienische Bildtransfer im originalen Cinemascope macht den in Deutschland bisher stark gekürzten Film in ganzer Pracht zugänglich und präsentiert in Schärfe, Farbtiefe und Körnung optimale Unterhaltung. Gleiches gilt für die verfügbaren Tonspuren, die auf Deutsch, Englisch und Italienisch ertönen. Die auf eine separate DVD ausgelagerten Extras geben sich mindestens so opulent wie die im Film portraitierte Operninszenierung und sind in mehrere Featurettes gegliedert: in “Blutroter Vorhang” gibt Dario Argento seine Erinnerungen zum Filmdreh preis, während Komponist Claudio Simonetti in “Noten und Albträume” über seine Karriere und die diversen Arbeiten mit Goblin und dem Regisseur plaudert. Für „Wer hat das getan und wer bin ich?“ nimmt Drehbuchautor Franco Ferrini vor der Kamera Platz, der die einzelnen Entwicklungsstufen des Skripts beleuchtet und auch auf nicht verwendete Ideen eingeht. „Die Rache der Krähen“ erklärt Animatronik- und Spezialeffektekünstler Sergio Stivaletti Hintergründe über die technische Umsetzung diverser Modellaufnahmen, während Publizist Enrico Lucherini in „Der Fluch von ‚Macbeth‘“ von seiner jahrzehntelangen Freundschaft mit dem Regisseur berichtet, wobei er neben den Höhen auch die Tiefen nicht ausspart. „Mit offenen Augen“ gibt schließlich Filmhistoriker Fabrizio Spurio die Möglichkeit, über verschiedene Querverweise zu anderen Argento-Filmen zu referieren. Eine Q&A-Runde, „Terror im Kino“ genannt, mit Argento, Ferrini und Regisseur Lamberto Bava rundet diese Sektion ab. Den Film endgültig zu dekodieren fällt dem Audiokommentar des versierten Gespanns Dr. Marcus Stiglegger und Kai Naumann zu, die viele Facetten dieses Meisterwerkes beleuchten und Hoffnung auf eine baldige deutsche Buchveröffentlichung zum Argento-Komplex machen. Weitere Extras bilden die Exportfassung (in HD) sowie ‚unmaskierte‘ Fassung (SD) des Filmes. Mehrere Filmtrailer, 2 Musikvideos von Simonetti, eine Bildergalerie sowie ein 16-seitiges Booklet von Oliver Nöding runden das ganze ab – zusammen mit dem formschönen Mediabook lässt dieser Release im Grunde keine Wünsche unerfüllt. Endlich lässt sich dieses alptraumhafte Filmmeisterwerk vollends genießen.
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Opera, Italien 1988, R: Dario Argento, D: Cristina Marsillach, Ian Charleson, Urbano Barberini, Daria Nicolodi, Coralina Cataldi-Tassoni, William McNamara
Anbieter: Koch Media