Der Irrsinn hinter der Liebe.

Gaspar Noé kann auch eine Liebesschmerzgeschichte nicht anders als skandalträchtig erzählen. In diesem Fall mit vielen Pornoszenen – was auch in Cannes anno 2015 immer noch ein (Ins-Kino-)Treiber ist, zumindest für die Filmkritiker.

Poster-Love-A1 Doch whatever, ich mag die Filme von Gaspar Noé. Sie mögen humorlos sein, in geradezu technokratischer Symmetrie daherkommen und Themen wie Liebe, Sehnsucht und Unerfülltheit so geometrisch geordnet behandeln wie sie seit Goethes WAHLVERWANDTSCHAFTEN kaum mehr behandelt wurden – doch sie bringen damit etwas Neues in bereits ewig durchgenudelte filmische Gefühlswelten. Die Symmetrie wird hier vor allem durch wiederkehrende ähnliche pornographische Sexszenen hergestellt. Meist von oben gefilmt, ruhig, sprachlos – doch immer mit unterschiedlicher Musik (mal Klassik, mal hendrixscher Gitarrensumpf) und unterschiedlichen Sexpraktiken. Ansonsten werden zwei Erzählebenen parallel montiert: die Jetztzeit und die Vergangenheit, die mit Liebe und Hass, Entbehrung und Lust munter kombiniert werden.

Im Zentrum der Geschichte steht Murphy (Karl Glusman), ein junger Filmemacher mit Frau und Kind und dem Namen, der ebenjenem „Gesetz“ nachempfunden ist. Murphy ist in höchstem Maß unglücklich mit seiner Situation, seiner Ehe, seiner nörgelnden Frau Omi (Klara Kristin). Er träumt von seiner wahren Liebe Electra (Aomi Muyok), die ihn verließ, weil er mit Omi fremdging und Verantwortung für das ungewollte Kind übernahm.

LOVE©AlamodeFilm_02 Obwohl die Story durchaus grobschlächtige Psychologisierungen enthält und bestimmt nicht als klassischer Studiofilm durchgeht, sind die Charaktere in LOVE in ihrem Handeln komplex. Murphys Sehnsuchtsperson Electra ist ein wildes Mädchen, das Sex auf Opium ausprobieren will, oder einen Dreier mit einer Blondine, – der ihr ja zum Verhängnis wird. Electra ist Malerin mit fatalem Hang zu Drogen und Drama. Und sie ist zu allem bereit: „Du kannst eine ganze Menge mit mir tun, wenn du nur fragst.“ Ihre wilde und offene Seite führt – je später der Film – immer wieder zum Streit mit dem konservativen Murphy.

Seine in der Gegenwart so unglaublich heroisierte Liebe hatte also immer schon ihre Bruchstellen. Er wachte eifersüchtig über Electra, sie hatte stets Probleme mit seinem Verhalten. Seine Filmposter von „Salo“ und „L’histoire d’O“ wirken wie ein ironischer Kommentar zu dieser komplizierten Abhängigkeit, die gezeichnet ist von impulsiven Handlungen und irrsinnigen Liebesbezeugungen.

LOVE©AlamodeFilm_01 „Was ist der Sinn des Lebens?“, fragt Murphy Electra relativ früh im Film. „Liebe“, antwortet sie. Aus diesem Frame, „Liebe“, kommen die beiden nicht heraus, und wir als Zuschauer werden auch in dieser Perspektive festgenagelt. Liebe sind Murphys Flashbacks in sanften Retro-Brauntönen, die Unausweichlichkeit des hohen Anspruchs mit den Problemen, die sich daraus ergeben („Liebe ist … auch mal einen Dreier wagen“), die Symmetrieachse, die sich durch viele Einstellungen des Films zieht – und stets der Versuch, das durch körperliche Liebe einzulösen. Darum erhalten die pornographischen Szenen so viel Platz.

Dabei wollen weder Regisseur Noé noch sein Protagonist Murphy klassische Pornografen sein. Noé lässt seinen Charakter Murphy das filmische Idealprogramm an einer Party ausplaudern: „Mein grösster Lebenstraum ist es, einen Film zu machen, in dem die sentimentale Sexualität anschaulich dargestellt wird.“ Diesen Anspruch versucht LOVE zu erfüllen, denn es gibt ja mehr als eine Liebes-Sexszene im Film. Wobei beim Betrachten der Szenen schnell die Frage auftaucht, ob sie wahrhaftig Sentimentalität darstellen können. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein: der kalte, von oben gefilmte Sex benötigt 85% narrative Anteile, damit er mit den geeigneten Emotionen aufgeladen wird. Und manche der Szenen sind alles andere als sentimental, sondern einfach verstörend. Sex mit Musik à la Throbbing Gristle. Düsteres, beunruhigendes Früh-Achtziger Industrial Sounddesign. Er wird eifersüchtig, schlägt einem Partygast eine Champagnerflasche über den Kopf, wird eingebuchtet, schreit „Ich bin doch kein Muschi-Sklave.“ Auch der Besuch im Swingerclub endet nicht gerade positiv für Murphy. Electra sagt zu Murphy: „Du lebst in Angst.“ Und über all dem schwebt die Einsicht „Wenn du dich verliebst, so richtig, bist du der Verlierer.“ Murphy meint dazu ungläubig, und später wissend: „Ich bin der Verlierer?!“

LOVE©AlamodeFilm_03 Noës Kino ist ein Kino der Analyse („anal“ im wahrsten Sinne des Wortes: IRREVERSIBLE begann von hinten im Club „Rectum“) und der anderen Perspektiven. Tatsächlich wurde Pornografie noch nie so aufgenommen und am ungesehensten ist die Kameraeinstellung zu einem Electra-Murphy-Drogentrip aus dem Innern einer Vagina heraus. Wie sehen den Riesenpenis zur Kamera hinkommen und weggehen und schließlich abspritzen. Was schon auf dem Fernsehgerät atemberaubend wirkt, wird wohl auf dem big screen eines Kinosaals in Cannes schier mindblowing gewesen sein. Und dann gibt’s den Film auch noch in 3D! Das dürfte wohl eine der wenigen 3D-Szenen sein, die man unbedingt gesehen haben wollte.

Ah ja, Gaspar Noé hat sich einen persönlichen Witz erlaubt, beziehungsweise der Story eine sehr persönliche Perspektive gegeben: Protagonist „Murphy“ trägt den Namen von Noés Mutter, das Baby im Film heisst „Gaspar“ und nicht zuletzt spielt Gaspar Noé selbst einen Galerienbesitzer und Ex von Electra, auf den Murphy unendlich eifersüchtig ist.

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Love, Frankreich/Belgien 2015 | Regie: Gaspar Noé | Drehbuch: Gaspar Noé | Kamera: Benoit Debie | Mit: Aomi Muyok, Karl Glusman, Klara Kristin, Ugo Fox, Juan Saavedra, Gaspar Noé | Laufzeit: 141 Min. (Verleih: Alamode)

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