Von Bodo Traber
I. „Innerhalb der Unlogik ist wiederum eine Logik zu Hause.“
(Raphael Lenné: Das Urphänomen Angst)
„Ich bin sicher, dass ich es gesehen habe.“
„Was?“
„Am Ende der Straße. Nur für einen Moment, und ich konnte es nicht genau erkennen. Und dann verschwand es um die Ecke… Oh, barmherziger Gott!“
„Wie ist das Wesen gegangen? Langsam? Schnell?“
„Gegangen? Wie hätte es gehen können? Es kroch oben an der Wand entlang!“
(Nigel Kneale: The Quatermass Experiment)
Der Alptraum beginnt wie ein Heimatfilm: Ein junges Klischee-Liebespärchen schlendert an einem lauen Klischee-Sommerabend an einer Wiese entlang, um dann kichernd zu einem Klischee-Heuhaufen hinüberzulaufen und zu knutschen. Ein paar Takte Sülzen-Harmonie dudeln vom Soundtrack, gaukeln für ein paar Sekunden eine heile Welt vor, ehe ein hohes, lautes Pfeifen aus den Wolken herabdröhnt, das sich zu einem grollenden Donnern verstärkt. „Was ist das?! Was ist das?!“ schreit das Mädchen – zwischen dem Zirpen von Riesenameisen über der Wüste und über dem Pazifik treibenden radioaktiven Wolken sicher die meistgestellte Frage des Paranoia-Films überhaupt. Als das Bauernhaus, in das die beiden sich retten, zusammenbricht, und der Farmer mit einer Flinte ins Freie rennt, sehen wir zwischen Hitzeentladungen die dampfende Hülle einer Rakete in der Erde stecken.
Viel später wird sich herausstellen, dass die beiden von einer außerirdischen Lebensform, die während des Fluges „irgendwie“ an Bord gelangt sein muss und sich in Carroon eingenistet hat, aufgesogen wurden. Hinter den Paneelen der Rakete entdeckt man eine organische Gallertmasse, die durch die Zentrifugalkraft die Wände hoch geschleudert wurde. Es sind die Überbleibsel zweier menschlicher Körper. Carroon, der aus dem Krankenhaus entkommen ist, beginnt sich langsam in ein schleimiges Tentakelwesen zu verwandeln, das andere Lebensformen absorbierend durchs nächtlich-neblige London kriecht. Als man es nach Tagen auf einem Baugerüst in der Westminster Abbey endlich aufspürt, steht es kurz vor seiner Reproduktion. Quatermass jagt den Strom von halb London durch das Gerüst und grillt das Ding vor laufenden Fernsehkameras. Am Ende stapft er einsam und verbittert die Straße hinab, und in einer Überblendung sehen wir, wie die zweite Rakete gestartet wird. Der Mann hat nichts dazugelernt.
II. John Brosnan („Science Fiction in the Cinema“) nennt Nigel Kneale einen „Schriftsteller mit einer unnachahmlichen Fähigkeit, zeitgenössische SF-Themen sowohl mit Mythologien als auch mit überkommenen Elementen des Übernatürlichen zu verbinden und somit Geschichten zu schaffen, die das Großhirn glatt übergehen und direkt auf unterbewusste Ängste zielen.“ Die Bedingungen, unter denen die Serie produziert werden musste (zu einer Zeit, als die MAZ noch nicht erfunden war), sind heute kaum noch vorstellbar: Fernsehen war damals Live-Fernsehen nach Vorbild des Rundfunks, und das galt nicht nur für Nachrichtensendungen, Reportagen oder Sportübertragungen, sondern auch für Fernsehspiele und -serien. Auch THE QUATERMASS EXPERIMENT (sechs Halbstundenfolgen am Samstagabend, 18. Juli – 22. August 1953) und seine beiden Fortsetzungen QUATERMASS II (22. Oktober – 26. November 1955) und QUATERMASS AND THE PIT (22. Dezember 1958 – 26. Januar 1959) gingen live raus, mit einigen wenigen vorher auf Zelluloid gedrehten Außenaufnahmen, die an den vom Drehbuch vorgesehenen Stellen in die Live-Sendung eingespielt wurden, um Zeit für den Umbau der Studiodekoration für die nächste Innenszene zu gewinnen. QUATERMASS AND THE PIT wurde auf (der 1956 von Ampex für die „Time Shift“ amerikanischer Live-Programme zwischen den Zeitzonen entwickelten) MAZ mitgeschnitten; von den ersten beiden Serien sind nur noch die Drehbücher erhalten. (Nachtrag: Inzwischen wurden (Film-)Aufzeichnungen auch der ersten beiden Serien wieder aufgefunden, B.T., 2016.) Was ihnen 1953 in den damals schon museumsreifen Studios in Alexandra Palace zur Verfügung stand, beschreibt Kneale als „die ältesten funktionstüchtigen Kameras der Welt,“ in Gebrauch seit 1936, „mit unbeweglichen Linsen und Wo-ist-das-Vögelchen?-Suchern, bewegt wurden sie auf Fahrrad-Rädern.“
London im Sommer 1953 war von neuem Optimismus und Fortschrittsgläubigkeit geprägt. Der Kalte Krieg hatte nach Stalins Tod im März und dem Waffenstillstand von Panmunjong Ende Juli, der den Korea-Krieg beendete, einer kurzen Tauwetter-Periode Platz gemacht (Malenkow äußerte just in dieser Woche vor der Weltöffentlichkeit den Wunsch nach einer friedlichen Koexistenz der beiden Machtblöcke), und die alte, unangefochtene Hauptstadt des britischen Empire hatte etwas vom Glamour vergangener Epochen wiedererlebt, als die neue Königin Elisabeth II. vor versammeltem Commonwealth und Millionen von Fernsehzuschauern in aller Welt in einem goldbeschlagenen Sechsspänner zur Krönung die Mall hinuntergefahren war. „1953 war ein übertrieben zuversichtliches Jahr,“ schreibt Nigel Kneale, „die Lebensmittelrationierung kam zu einem Ende (die Wiederwahl Winstons Churchills 1951, die die Labour-Regierung stürzte, hatte einen wirtschaftlichen Aufschwung nach sich gezogen, B.T.), der Everest war gerade bestiegen worden, die Queen gekrönt, und unsere ersten Comet-Jets erwiesen sich als trügerisch erfolgreich (Das erste Düsenpassagierflugzeug der Welt – die Comet – wurde später wegen Konstruktionsfehlern aus dem Verkehr gezogen, B.T.). Eine saure Note schien angebracht.“
Die vorsintflutliche Technik in Alexandra Palace (ein Jahr später zog die BBC nach Lime Grove um) trug natürlich dazu bei, die Mängel in der Illusion durch ein körniges, wellenlinienüberlagertes Bild zuzudecken, aber den Hauptanteil dazu, das rankenwerfende Ding in Westminster Abbey, das nichts weiter als eine Hand in einem mit Props beklebten Gummihandschuh war, zum Leben zu erwecken, leistete die Fantasie in den Köpfen von über einer Million Zuschauern.
III. „’Machen wir einen zweiten Quatermass!’ sagte die BBC. Es war ein paar Jahre nach dem ersten Serial, das einen unvorhersehbaren Erfolg gehabt hatte. Eine Filmversion war entstanden, mit der ich nichts zu tun hatte. Sie hatte meinen geplagten Professor in einen grantigen Grobian verwandelt,“ erinnert sich Kneale. Er hat es nie verwunden, dass die Hammer aus seinem kultivierten, humanistischen alten Wissenschaftler einen rücksichtslosen Egomanen gemacht hat. „Sie sollten froh sein, einen Mann zu haben, der bereit ist, sein Leben zum Wohl der ganzen Welt zu riskieren!“ fährt Quatermass im ersten Hammer-Film Judith Carroon, die Ehefrau des Astronauten an. „Wessen Welt?“ kontert sie, „Ihre Welt? Die Welt von Quatermass?!“
Brian Donlevy (ein ehemaliger amerikanischer Star aus DESTRY RIDES AGAIN- und THE GLASS KEY-Zeiten, wie sie die Hammer als Zugpferde für ihre frühen Filme einspannte) steht wie ein Fels im Mittelpunkt dieses überaus schwarzen Films, der fast seine gesamten 85 Minuten bei Nacht spielt. Sein Quatermass, der kaltschnäuzig über Leichen geht, ist in der Tat das genaue Gegenteil des gebildeten Gentleman, der sich in Nigel Kneales Drehbuch am Ende vor der Fernsehkamera an die Bevölkerung wendet und für das, was er getan hat, um Vergebung bittet. Sein Quatermass aber ist durchaus eine konsequente Fortführung der viktorianisch geprägten „Mad Scientists“ der klassischen Horrorfilme ins Atomzeitalter hinein. Im US-Film wurde der klassische „Mad Scientist“ domestiziert, zum alten, mit dicken Brillengläsern und ebenso dickem Wissen versehenen Helfer des jungen, dynamischen Helden degradiert. Quatermass ist eine weitaus vielschichtigere Figur; eine Art Magier der Naturwissenschaften, die der Paranoia-Film säkularisiert hat. Andrew Tudor („Monsters and Mad Scientists“) hält ihn für „ein Extrem-Beispiel der übermenschlichen Autorität“, die im klassischen Horror-Genre etwa auch der Vampirjäger des DRACULA-Filme Dr. van Helsing hat, von Peter Cushing oft ähnlich rüde angelegt. Dass sich Quatermass – ebenso wie Van Helsing – in seiner von allen anderen abweichenden wissenschaftlichen Einschätzung der Zusammenhänge niemals täuscht (weder bei Kneale noch in der von Richard Landau geschaffenen, vereinfachten Filmfigur) liegt daran, dass er der Paranoiker ist, aus dessen Blickwinkel wir den Film erleben.
Langsam fügt sich eins zum anderen, bildet sich der noch nicht greifbare Verdacht, dass irgendetwas vorgeht. Die Autofahrt nach Wynnerton Flats, einem Dorf an der Küste, in dessen Gegend der Meteoritenregen stattfand, und wo das Pärchen aus dem Cabrio picknicken wollte, wird zum Rattenspiel im Labyrinth: Der alte Feldweg, der früher zu dem Dorf führte, mündet plötzlich in ein Raster funkelnagelneuer Betonpisten. Quatermass und Marsh (dieses Mal Bryan Forbes) kreuzen mit dem Wagen hilflos zwischen „Government Property“-Schildern, Stacheldrahtverhau und Straßen herum, die ins Nirgendwo führen, einfach aufhören. Langsam hat sich Musik eingeschlichen, die unter der Wahrnehmungsgrenze entlangzukriechen scheint („creepy“ ist das beste Wort für James Bernards genialen Soundtrack zu beiden Filmen). Und aus den Büschen blicken unbemerkt geheimnisvolle Uniformierte. Am Abend zuvor noch stand Quatermass über sein Tisch-Modell des „Mond-Projekts“ gebeugt und erklärte frustriert, dass nichts daraus werden würde, da man ihm die Gelder gestrichen hat. Ein Weltraumbahnhof war da aufgebaut; eine stählerne Kolonie, große halbkugelförmige Kuppeln, in denen eine künstliche Atmosphäre gehalten werden kann, untereinander verbunden durch Pipelines. Jetzt steigt er, als der Wagen einen kleinen Hügel hinanklimmt, auf die Bremse, springt ‚raus und blickt ins Tal. Wo wahrscheinlich einmal das Dorf Wynnerton Flats war, erstreckt sich ein gigantisches Stahlareal voller Kuppeln und Rohre, umgeben von Stacheldraht: Das „Mond-Projekt“.
Auffällig ist, dass Quatermass diese Nacht auf der Startrampe durchgearbeitet hat. Denn dass er auch für den Rest der Geschichte nicht mehr zum Schlafen kommt, prägt das Delirierende, Bizarre dieses Films unterschwellig mit: Das grellweiße Tageslicht, das irgendwie zu hell und zu diffus ist, als dass man mehr erkennen könnte als dunkle Konturen, auch wenn man die Augen zusammenkneift (wie Brian Donlevy es den ganzen Film über tut), das unwirkliche Gefühl, als würde sich alles in seine Bestandteile auflösen… David Pirie, der QUATERMASS II für „das größte Anxiety Movie von allen“ hält, ist derselben Ansicht: „Gerald Gibbs, dessen Schwarzweiß-Fotografie in X – THE UNKNOWN auf so wunderbare Weise eine Aura stummer Hysterie hervorrief, hat sich in QUATERMASS II selbst übertroffen: Praktisch alle der trüben Außenszenen scheinen im Winter-Zwielicht aufgenommen worden zu sein und schaffen eine entsetzliche, alles beherrschende Atmosphäre bevorstehender Vernichtung.“
IV. Sowenig das Wesen im ersten Experiment treffend zu beschreiben oder gar biologisch zu definieren war, sowenig passt auch das „X“, das hier unter Zurücklassung zerschmolzener Menschen durchs schottische Hochland geistert und Isotope absorbiert, in irgendein Lexikon. Aber Dr. Adam Royston (Dean Jagger) zieht einen Schluss: Es muss sich um eine Portion intelligenten Matsches aus dem Erdinnern handeln, die sich von Radioaktivität ernährt und – wie sich herausstellt – aussieht wie eine halbe Tonne Haferflockenbrei. „Und doch ist die Erklärung, die Dr. Royston gibt, unter den Umständen ganz vernünftig und logisch,“ schreibt Lucanio. „Und egal, wie absurd sie dem Zuschauer erscheinen mag, sie ist in eine Sprache der ‚Wissenschaftlichkeit’ gehüllt und deshalb ‚klingt’ sie wie eine Schlussfolgerung aus bestehenden wissenschaftlichen Erkenntnissen. Die Mehrzahl der Alien Invasion Filme präsentiert Erklärungen, die als wissenschaftlicher Jargon dechiffrierbar sind, wenn auch nicht als Wissenschaft.“ Das Angstverhalten schafft eine neue, in sich logische Form von Ratio. Ohne konkrete Spezifikation (seiner Struktur und seiner Schwachpunkte) lässt sich das Monster nicht bekämpfen. Das Kino der Angst, das Kino der Alpträume, ist in Wahrheit ein Kino der Logik.
Judith: „Könnte eine Form von Leben im Weltraum selbst existieren?
Einfach treibend?“
Quatermass: „Eine Art…Plankton des Äthers.“
Judith: „Warum nicht pure Energie, ohne organische Struktur? (…)
Es könnte in gewisser Weise sogar intelligent sein.“
Lomax: „Was reden Sie denn da? Es muss eine vernünftige, einfache
Erklärung geben!“
Quatermass: „Nehmen wir an, das ist sie.“
Auch Inspektor Lomax (im Film spielt ihn Jack Warner, der herzliche Super-Intendant in den LADYKILLERS) kann von den beiden Paranoikern überzeugt werden, dass das Universum mitnichten so harmlos ist, wie er glaubt – mitnichten überhaupt so ist, wie er glaubt. Eine Überzeugungsarbeit, die der Professor in QUATERMASS II wiederholen muss, nachdem er entdeckt hat, dass die Außerirdischen die Fabrik bei Wynnerton Flats betreiben; nachdem er als einziger Überlebender einer Parlamentskommission von dort zurückgekehrt ist. Angekommen in zwei Rolls Royces, wurden die Parlamentarier freundlich ins Innere der Anlage geführt und in eine Luftschleuse gebracht. Quatermass hatte als einziger das nötige Misstrauen, um wieder hinauszurennen, und der Abgeordnete Vincent Broadhead (Tom Chatto), der sich die synthetischen Nahrungsmittel, die die Fabrik angeblich produziert, genauer ansehen wollte, ist in die schwarze Masse hineingefallen und verätzt worden. Mythisch und grausig, wie er von Kopf bis Fuß von der rauchenden Schmiere bedeckt – blind – die Stahltreppe hinuntertaumelt. Quatermass kann Lomax (dieses Mal John Longden) natürlich überzeugen, aber als der zum Commissioner geht, entdeckt er das Mal, die Wunde, die die Aliens hinterlassen, wenn sie in den Körper dringen, auf dessen Hand.
V. Das vage Polizeistaat-Klima, das Gefühl des Ausgeliefertseins, wird in diesem Film jedesmal, wenn stumme, bis an die Zähne bewaffnete Uniformierte im Gleichschritt einen Hügel herabkommen, übermächtig. Es ist dasselbe Klima, in dem später auch die Losey-Filme THE DAMNED und FIGURES IN A LANDSCAPE gedeihen werden. Paranoia ist nicht objektgebunden, sie wird nicht von der Furcht vor einer konkreten Gefahr (z.B. Monstern) ausgelöst, sondern durch winzige Kleinigkeiten. Und in der Regel hat zum Zeitpunkt, wenn die Gefahr auftaucht, der Paranoiker sein Universum schon soweit umgedeutet und mit einer neuen Logik versehen, dass sie einen festen Platz darin hat, ja Dreh- und Angelpunkt dieses Universums ist. Ein solides, „gesundes“ Grundmaß an Angst und Panik als reinem Schutzmechanismus muss immer vorhanden sein. Man muss auf der Hut sein, soll es einen nicht irgendwann erwischen. Und dieses Grundmaß an Angst liegt über einem Paranoia-Film wie ein normaler, alltäglicher Verhaltenszustand. Mehr noch: Wer keine Angst empfindet, durchschaut die Welt nicht, kennt die Wahrheit nicht. Obwohl das Ding in der Westminster Abbey gegrillt und der Alien-Asteroid im Orbit in Fetzen gesprengt ist, gibt es keine Entwarnung. „Ich frage mich, wie mein Abschlußbericht darüber aussehen soll,“ witzelt Lomax müde, als die riesigen, wabernden Protoplasma-Organismen unten im Tal – der Erdatmosphäre ausgesetzt – sterbend zusammengebrochen sind. „Und ich frage mich, wie abschließend er sein kann,“ antwortet Quatermass und stapft unter der losschrillenden Abspannmusik davon. Der Alptraum wird nie vorüber sein.
Zuerst veröffentlicht in Splatting Image Nr. 16, Dezember 1993.