Reykjavík oder anderswo.

Wer einmal auf Island war und sich die Insel genauer angesehen hat, der weiß, dass das Land mehr zu bieten hat als nach faulen Eiern stinkende Quellen, bizarre Mondlandschaften und karge Elfenfelsen. Die Hauptstadt Reykjavík hat 2011 nichts, was es in einer anderen europäischen Großstadt nicht auch gäbe – wie etwa den brutalen Kampf rivalisierender Gruppen um die Vorherrschaft in der Unterwelt und die hilflosen Versuche der Strafverfolgungsbehörden, das Verbrechen einzudämmen. Und schon sind wir mitten in der Story von CITY STATE – STADT DER GEWALT. Die Schergen des Unterweltbosses Gunnar (Ingvar Eggert Sigurðsson) attackieren die Frau des Immigranten Sergej (Zlatko Krickic), die daraufhin ihr ungeborenes Kind verliert. Sergej startet einen erbarmungslosen Rachefeldzug gegen Gunnar und seine Männer. Auch die Polizistin Andrea (Ágústa Eva Erlendsdóttir) greift in den Konflikt ein, nachdem ihr Freund von Gunnars Truppe schwer verletzt wurde. Sie will, wie auch Sergej, keine Gerechtigkeit, sondern Rache.

Cover-CITY-STATE „Sie ist ein seltsames kleines Mädchen“, sagt Gunnar über Andrea. Doch die Polizistin ist weder seltsam noch ein kleines Mädchen: Sie verkörpert den Typus eines Cops, der einem ganz eigenen moralischen Kompass von Recht und Gerechtigkeit folgt. Auch die üblichen Polizisten handeln nicht ethisch, sondern moralisch – sie stellen sich auf die Seite des vermeintlich Guten und wenden dabei die gleichen Methoden an wie die, die sie strafrechtlich verfolgen. Eine Ausnahme bildet Andreas´ Vorgesetzter, der mit Gunnar gemeinsame Sache macht, um so für beide Parteien eine Win-Win-Situation zu kreieren – er sorgt dafür, dass Gunnars Kreise nicht gestört werden; der Unterweltboss versorgt ihn im Gegenzug mit leichten Damen und Informationen. Der Film lebt von der Verwirrung, die er erzeugt – wer von den Figuren ist eigentlich gut und wer böse? Und der Frage: Wem folge ich? Den Immigranten vom Balkan, der Polizei oder den isländischen Gangstern?

Regisseur Olaf de Fleur Johannesson setzt in der auf 86 Minuten verteilten Story auf altbekannte Motive: Mord aus Rache, Geldgier und Eifersucht. Die Helden sind, wie häufig im Film Noir, als Antihelden angelegt – desolat, grenzüberschreitend, entfremdet, verbittert, hardboiled und desillusioniert. Sie suchen nach Halt und Orientierung, um der Trostlosigkeit ihrer Situation und ihrem Schicksal zu entgehen, obwohl sie insgeheim wissen, dass das nicht möglich ist. Die Femmes fatales, korrupten Polizisten und traumatisierten Ehemänner sind allesamt Archetypen des Genres. Sie kommunizieren in knappen Dialogen, die aber viel aussagen: Über echte und unechte Gefühle, über Schein und Sein, über Härte und Verletzlichkeit. Den Rest erledigt ihre Körpersprache.

Die Figuren, die wir kennenlernen, mag es in der Realität geben; die Metamorphosen, die sie durchlaufen, sind allerdings zu eindimensional. So ist Sergejs Entwicklung vom treusorgenden Familienvater, der sich durch die Lagerung von Drogen in seiner Autowerkstatt etwas dazuverdienen will, zum skrupellosen Gangsterboss, der die Gesetzmäßigkeiten und Mechanismen der dunklen Seite der Macht aus dem Effeff kennt, kaum nachzuvollziehen. Dabei ist es keineswegs unrealistisch, wenn ein ehemaliger, traumatisierter Soldat durch den Verlust seines Kindes längst Verdrängtes wie in diesem Fall überbordenden Hass und geschäftsmäßige Skrupellosigkeit wiederentdeckt. Wenn es so angedacht war, hätte es auch plausibel dargestellt werden müssen. Auch Gunnar als Gangsterboss überzeugt nicht in allen Facetten. Er zeigt Schwächen, was allzu menschlich ist. Doch kann ein Mensch, der solche Schwächen zeigt, überhaupt in die Position kommen, in der er dargestellt wird?

Das Ende des Films ist abrupt, die Erzählstränge bluten wie frisch abgetrennte Glieder noch gehörig nach: Findet Andrea zurück in die Spur? Findet Sergej sein inneres Gleichgewicht wieder und versiegt damit sein Rachedurst? Kann der korrupte Polizist sich weiter zwischen Recht und Verbrechen behaupten? Und weiter, wenn wir die Sphäre der inneren Kämpfe verlassen: Was wird aus der Romanze zwischen Andrea und ihrem Kollegen? Was aus Sergej und seiner Frau, die in Agonie verfallen ist? Was aus dem Polizeibeamten und seiner Freundin, der ehemaligen Prostituierten? Und last but not least: Was wird aus der Stadt und einem gesellschaftlichen System, das keine Alternative zum Turbo-Kapitalismus und seinen selbstzerstörerischen Kräften kennt?

CITY-STATE-01 Wenn an dem Skript handwerklich auch wenig auszusetzen ist, so fehlt zur Finesse und Tiefenschärfe eines Noir nach Machart eines Wilder, Hitchcock oder Huston doch einiges. Auch das Label „Nordic“ Noir verdient der Film nur bedingt, denn – angefangen bei den Charakteren, über den Plot bis hin zu den Darstellungen des Alltags in der Familie oder der Polizeiverwaltung – es fehlt das Nordische. Die Sprache und der Drehort machen aus einem Thriller noch keinen Nordic Noir.

Was ihn dazu hätte machen können, finden wir exemplarisch bei THE KILLING, der MILLENNIUM-Trilogie oder DIE BRÜCKE, nordische Charaktere sind bei den Wallander- und Kommissar Beck-Verfilmungen eindrucksvoll dargestellt. Hier bilden soziale und kulturelle Besonderheiten des Landes, die Spezifika des politischen Systems und die Bedeutung der sozialen Gerechtigkeit die Matrix, in der die Figuren agieren und durch die sich der Film die Klassifizierung „nordic“, wenn auch nicht immer „noir“, verdient.

CITY STATE setzt die Tristesse und die Unbilden des Alltags anschaulich in Szene, und das auch ohne die sonst genretypischen Stilmittel wie Farbkontraste, Hell-Dunkel-Effekte oder schnelle Schnitte. Der Film wirft ein Schlaglicht auf eine Stadt, in der die Figuren gefangen sind wie in einem Gefängnis ohne Mauern. Sie können nicht so agieren, wie sie gern würden, und schließlich arrangieren sie sich. Und wenn man sich an Serien wie THE WIRE erinnert – die Beschreibung einer korrupten und dekadenten amerikanischen Gesellschaft, die emotional verkrüppelte und angepasste Menschen produziert, was von Insidern der realitätsgetreuen Darstellung wegen gelobt wurde, – glaubt man gern, dass auch die isländische Gesellschaft in CITY STATE realitätsnah dargestellt ist – emotional verkrüppelte Menschen, die der Krieg auf dem Balkan zurückgelassen hat, alteingesessene Gangster, die die Schattenwirtschaft des Landes beherrschen, und eine Polizei, die realisiert, dass die Mittel des demokratischen Rechtsstaates nicht ausreichen, um die, die keine Grenzen kennen, zu stoppen.

CITY STATE zeigt den Kampf jedes gegen jeden und transportiert ein durch und durch pessimistisches Menschenbild; Figuren, die ziellos in einer entsolidarisierten Gesellschaft umherwandern. Und man fragt sich unweigerlich, wo sie enden werden.

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Borgríki, Island 2011, Regie: Olaf de Fleur Johannesson, Mit: Ágústa Eva Erlendsdóttir, Ingvar Eggert Sigurðsson, Sigurður Sigurjónsson, Zlatko Krickic, Björn Thors,Gladkaya Luna, Björn Hlynur Haraldsson, Gísli Örn Garðarsson,Stefania Agustsdottir u.a.

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