Die Atmosphäre eines aufziehenden Sommergewitters: Bevor der Blick auf die ersten dunklen Wolken fällt, noch bevor das erste Grollen ertönt, ist das Gefühl da, dass bald etwas passieren wird. Jener fast surreale Moment, der diese Ahnung einer Änderung vermittelt – sei es der vom Wind herbei gewehte Geruch regennassen Asphalts, sei es das stärkere Rauschen der Gräser auf dem Feld, deren Farben nun matter leuchten. Es sind kleine Andeutungen, kaum fassbare Nuancen, die aus der Ahnung langsam Gewissheit werden lassen. Lucile Hadzihalilovics Filme spielen genau in diesem Moment, in einer Welt voller Andeutungen, nicht definierbarer Strukturen, voller Wunder, aber auch möglicher Gefahren. Es ist eine Welt, die wir selbst am ehesten noch als Kinder erfahren haben, weit zurück in einer Zeit, in der jede Synapse noch auf Empfang geschaltet war, jede Beobachtung unweigerlich eine Emotion mit sich brachte. Es verwundert kaum, dass die Protagonisten in den bislang zwei abendfüllenden Filmen Hadzihalilovics Kinder sind. Und wir sehen mit ihren Augen, fühlen mit ihren Herzen. Immer ist da etwas Größeres, Geheimnisvolles, dessen wahrer Charakter sich nicht vollständig erschließen will. Noch deutlich subtiler im 2004 entstandenen INNOCENCE über die fremde, seltsame Welt einer mysteriösen Mädchenschule, präsentiert auch ÉVOLUTION eine der Zivilisation entrückte, sich jeder zeitlichen Zuordnung entziehende Gemeinschaft. Diesmal sind die Kinder jedoch ausschließlich männlich, während anämische Frauen die einzigen Erwachsenen sind auf einer namenlosen Insel inmitten tosender See. Wir entdecken diese von de Chirico und Bosch inspirierte Welt mit den Augen des jungen Nicolas. Seine präpubertäre Neugier führt ihn unweigerlich weg von der traumhaften Unterwasserlandschaft des Meeres voller Korallen und bunter Fische hin zu dem mysteriösen Treiben der Erwachsenen, als er eine Kinderleiche im Wasser entdeckt. Niemand mag ihm glauben. Es ist, als ob sein Freund nie existiert hätte. Seine Mutter serviert ihm weiterhin Essen, das aus wurmartigen Algen in Schlamm zu bestehen scheint und injiziert ihm allnächtlich eine Dosis schwarzer Flüssigkeit als Medizin vor dem Schlafengehen. Nicolas beginnt, dem Treiben der Erwachsenen auf den Grund zu gehen, doch sein Weg scheint vorbestimmt, und er wird ihn in ein dunkles Krankenhaus führen.
Nächtliche Rituale am Strand, medizinische Experimente, an Cronenberg gemahnender Bodyhorror – Hadzihalilovic entfaltet in ÉVOLUTION das Bild eines fremdartigen Zivilisation und ihrer Angehörigen mit einem ganz speziellen Lebenszyklus, dessen grausige Details sich nur langsam, aber nie vollständig erschließen. Dabei präsentiert sie eine ganz spezielle Art von Kindesmissbrauch, die ob der emotionalen Kälte der Agierenden besonders verstört. Dass sich die Lebensgefährtin und Geschäftspartnerin Gaspar Noés mit Provokation auskennt, mag kaum verwundern, war doch schon ihr erster Kurzfilm LA BOUCHE DE JEAN-PIERRE ein Drama über sexuellen Missbrauch, von ihrem expliziten Werbespot für Kondome GOOD BOYS USE CONDOMS einmal ganz abgesehen. Doch soll dies alles nicht darüber hinwegtäuschen, dass ÉVOLUTION ein ausgesprochen sinnliches, sehr langsam in hypnotischen Bildern erzähltes Erlebnis ist. Im Vergleich zu INNOCENCE deutlich drastischer und konkreter in seinen Horrorelementen, ist aber auch ÉVOLUTION nur scheinbar narrativ. Der Film birst geradezu vor Andeutungen und bizarren Ideen, entzieht sich aber jeder entzaubernden Konkretisierung bis hin zur letzten Ambivalenz in der finalen Szene.
Hadzihalilovic ist einmal mehr ein magischer Film über einen Zustand des Kindseins gelungen, in dem die Welt der Erwachsenen als fremd und bedrohlich wahrgenommen wird. Auf dem Filmfestival von Rotterdam hörte man bei Verlassen des Kinos häufig den Satz „Ein merkwürdiger Film.“. Ein größeres Kompliment kann man diesem Meisterwerk inmitten anbiedernder, zu Tode erklärter Beliebigkeit kaum machen.
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Èvolution, Frankreich / Belgien / Spanien 2015 | Regie: Lucile Hadzihalilovic | Produktion: Ángeles Hernández, David Matamoros, Julien Naveau, Sylvie Pialat, Benoit Quainon, Sebastián Álvarez | Drehbuch: Lucile Hadzihalilovic, Atlante Kavaite | Kamera: Manuel Dacosse | Schnitt: Nassim Gordiji Tehrani | Musik: Jesús Díaz, Zacarías M. de la Riva | Mit: Max Brebant, Roxane Duran, Julie-Marie Parmentier u.v.a. | Laufzeit: 81 Min.