Der moderne Hippokrates. Von Friederike Grabitz

Von Friederike Grabitz

Bevor es an die Details geht: Island ist erstaunlich. Man stelle sich vor, ein Land mit weniger Einwohnern als Wuppertal bringt eine florierende Musik-, Kunst- und Filmszene von Weltrang hervor. Die 336.000 Isländer scheinen, fast unbeschadet von der Wirtschaftskrise, vor Kreativität und Professionalität zu bersten.

Eid_poster Eine der wichtigsten Prominenten dieser Filmszene ist das Multitalent Baltasar Kormákur (101 REYKJAVIK)), der nach einem Ausflug nach Hollywood und dem Blockbuster EVEREST für seinen jüngsten Film nach Island zurück gegangen ist und bei den Nordischen Filmtagen dessen Deutschlandpremiere feierte. Besonders habe ich mich auf die Hauptdarstellerin Hera Hilmarsdóttir gefreut, die bei den Filmtagen 2014 in dem leider nicht in Deutschland gestarteten LIFE IN A FISHBOWL überzeugte.

Eid_3 Hilmarsdóttir spielt in Kormákurs neuem Film Anna, eine junge Frau, die ihre Tage lieber mit Partys als mit ihrer Ausbildung verbringt. Ihr Vater Finnur, ein erfolgreicher Chirurg, erfährt, dass sie Drogen nimmt, und macht ihren Freund verantwortlich, einen Drogendealer. Finnur beschließt, die beiden auseinander zu bringen, damit Anna die Rauschmittel aufgibt. Weder Gespräche noch die Polizei können helfen. Finnur gibt nicht auf und greift zur Selbstjustiz…

Eid_7 Titel gebend für den Film ist der Eid des Hippokrates, der heute nicht mehr formal bindend ist, dem Ärztestand aber als Grundlage ethischer Regeln gilt. Darin heißt es, Ärzte sollten Patienten „schützen vor allem, was ihnen Schaden und Unrecht zufügen könnte“, und ihnen niemals, „auch nicht auf eine Bitte hin, ein tödliches Gift verabreichen“. Die Verbindung des Ärzteberufes mit der Rolle des Rächers in der Figur des Finnur soll ein provokanter Gestus sein, doch mehr noch als ein Arzt ist Finnur im Film vor allem ein Machtmensch, der im Operationssaal wie in der Familie gern die Kontrolle hat. Er gibt sich liberal, aber für die Tochter, die längst erwachsen ist und ihren Freund liebt, führt sein Rettungsversuch in einen Albtraum.

Eid_5 Wie viel von dem ist wahr, was er in ihrem Leben sieht? Und wenn es wahr ist: Wie weit darf man gehen, um ein Kind zu schützen, das kein Kind mehr ist? Gehört zu persönlicher Freiheit auch die Freiheit zur Selbstzerstörung? Der Film könnte viele Fragen aufwerfen, aber sie bleiben im Vagen. Die Handlung, so spannend und folgerichtig (oft: zu folgerichtig) sie im Einzelnen ist, hinterlässt mich seltsam unerschüttert. Man muss dem Film zugute halten, dass er nicht in die gut/böse-Falle tappt, und er bringt den Charakteren genug Respekt entgegen, um sie nicht vollständig auszuleuchten. Doch an vielen entscheidenden Stellen fehlen Details, die die Motive der Figuren emotional oder logisch nachvollziehbar machen würden. Was, außer Geldnot, treibt Anna immer wieder in ihr Elternhaus? Warum greift die Polizei nicht ein, als sie Drogen bei ihr findet? Als Finnur ihren Freund als Geisel nimmt, warum geht er nicht auf sein Angebot ein, ihn ins Ausland fliehen zu lassen? Warum hat das Drogenkartell, das hinter beiden her sein soll, sie plötzlich vergessen? Bei all dieser Verwirrung habe ich etwas den Faden verloren: Der Film will mir eine Frage stellen, nur welche bloß?

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Eidurinn, Island 2016 | Regie: Baltasar Kormákur | Buch: Ólafur Egilsson und Baltasar Kormákur | Kamera: Óttar Gudnason | Mit: Baltasar Kormákur und Hera Hilmarsdóttir, Laufzeit: 103 Min. (Verleih: Alamode)