Spanier am Rande des Nervenzusammenbruchs.

Alex de la Iglesia hat in 2015 eine groteske Komödie über die Mediengesellschaft gedreht, die höchst vergnüglich Zusammenhänge zwischen der realen Welt und ihrer medialen Rekonstruktion auslotet. Indem de la Iglesia MI GRAN NOCHE an lediglich einem Ort spielen lässt, aber ein großes Arsenal an Menschen auffährt, schafft er ein außergewöhnliches Nicht-Kammerspiel: Das chaotische Treiben findet in und vor dem Fernsehstudio der fiktiven Produktionsfirma Mediafrost statt.

bignightout-poster Mehrere Tage lang wird eine große Silvesterparty-TV-Produktion 2015/16 vorab gedreht. In Zeiten, in denen am TV und online alles noch authentischer und live! live! live! ausgestrahlt wird, wählt de la Iglesia eine der zwingendsten aller Livesendungen, den Neujahrswechsel, aus und stellt sie als Fälschung dar. In dieser Pseudo-Realität werden wir Beobachter von etwa 10 Erzählsträngen, die uns in höllischem Tempo ein Spanien am Rande des Zusammenbruchs demonstrieren. Während innen ein Statist an einem Tischchen von einer Kamera erschlagen wird, toben vor dem Fernsehstudio radikale Proteste gegen die anhaltenden Entlassungen der Produktionsfirma.

Der Tote wird durch den etwas behäbigen, neuen Statisten José (Pepon Nieto) ersetzt, der seinen Zuschauertisch verschämt mit einem Liebespaar und der offensiven Paloma (Blanca Suarez) teilt, die ihm gleich ihre vielen Narben zeigt („sind authentischer als Tattoos“) und ihn zu verführen beginnt. Derweil Josés getrennte Frau mit Kindern am Flughafen unter einer Bombendrohung leidet und seine Mutter von der Polizei verhaftet wird, weil sie in ihrem Mehrfamilienhaus einen Brand gelegt hat. Sie wird auch noch im Fernsehstudio auftauchen. Doch das ist nur etwa ein Achtel der dichten Filmstory, die mit Menschen vollgestopft ist wie ein Gemälde von Hieronymus Bosch.

bignightout4 Das Sittenbild zeigt auch den alten Popstar Alphonso (Raphael), eine Mischung aus Liberace und Neil Diamond, selbstverliebt mit Sektenführer-Appeal. In seiner Garderobe quält er schon mal seine Untergebenen, doch auf einmal wird sein Leben von seinem Adoptivsohn Yuri (Carlos Areces) und seinem Manager bedroht. Derweil der stets geile, attraktive Star Adenne (Mario Pasas) sich von Samenräuberinnen bedienen lässt. Die werden von seinem kleinen, schmierigen Manager durch das ganze Set gesucht und gejagt. Die Stars der Show, das Moderatoren-Ehepaar, ist völlig zerstritten, eine Kamerafrau setzt sich zur Wehr, weil sie auf dem Set gefeuert wurde. Josés Mutter kommt ans Set, die Proteste werden immer aggressiver, Petarden fliegen in die Produktionsstudios. Der Kamerawagen auf Sendung wird umgeschmissen. Chaos allerorten, immer weniger orchestriert von Schildern und ihren Best Boys, welche die Statisten um ihre Reaktionen anweisen wollen: „Jetzt Lachen.“ „Applaus“. Mündlich unterlegt von eben jenen Boys in immer hysterischer werdenden Anweisungen, die in ihr Gegenteil kippen: „Smile! Life is beautiful! Happiness! You fuckers.“ Die mediale Lachleute-Gesellschaft gerät ins Wanken.

Die Inszenierung dieses (Silvester-)Feuerwerks an Gags und witzigen Dialogen, dank dessen Tempo und Chaos selbst klischiertere Witze den Film nicht herunter zu ziehen vermögen, ist derart üppig und vielseitig, dass man nicht umhin kommt, sich an die Filme Fellinis zu erinnern. Hier freilich als durchgeknallte Farce.

bignightout5 Die zweigeteilte Einheit des Ortes strukturiert dabei die Gesellschaft: Die sozialen Probleme bleiben medial außen vor (also: vor den Filmstudios) und schaffen es nicht ins Fernsehen, während sich das Leben im Innern um zerstrittene Familienverhältnisse, Sex, Gewalt, Geld, aber auch überkandidelte Liebe, unkonzentrierte Arbeit dreht. Während wir über die protestierenden Menschen draußen nichts erfahren, ist das eigentliche Thema von MI GRAN NOCHE die Koexistenz der verschiedensten Lebensentwürfe, die in ihrem Egoismus bis an den Rand der Hysterie schwappen. So, dass am Ende nur noch Popstar-goes-Sektenführer die Situation retten kann. Kommt uns das bekannt vor? As in: Immobilienhai-goes-Wohltäter?

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Mi gran noche, Spanien 2015 | Regie: Alex de la Iglesia | Buch: Jorge Guerricaechevarría , Alex de la Iglesia | Kamera: Angel Amorós | Musik: Joan Valent | Mit: Raphael, Blanca Suarez, Pepón Nieto, Mario Casas, Hugo Silva, Carlos Areces | Laufzeit: 100 Min.