Der Übergang vom Leben in den Tod gibt im Film üblicherweise nichts anderes her als Bodycount, Leiden, letzte Geständnisse und ähnliches. In Zombiefilmen und Vampirfilmen wird wenigstens aus dem Halbtod etwas gemacht: Man ist tot und lebt doch, ein aristokratisches (Vampire) oder ein proletarisches Leben (Zombies).
Doch manchmal geht es in Filmen auch um eine feinere Linie zwischen Leben und Tod. Wenn der Wechsel vom Leben in den Tod und umgekehrt auf undurchsichtige Weise thematisiert wird, wie etwa in THE SIXTH SENSE, dann ist der Schauer meist mystischer, kühler, grusliger. In der Netflix-Serie THE OA geht es um genau den Wechsel der Lebenszustände, um Nahtod-Erlebnisse. Kaum je hat sich ein Fiction-Film ausführlich damit beschäftigt (meines Wissens lediglich der Film HEREAFTER von 2014 und natürlich FLATLINERS von 1990), THE OA macht das gleich auf radikale Weise. Nicht im Stil der siebziger Jahre, in denen man sich ja leidenschaftlich mit übernatürlichen Phänomenen als Phänomenen auseinandergesetzt hatte, also oft mit Kindern oder Jugendlichen, die mit telepathischen, telekinetischen, diabolischen oder anderen Kräften ihrer „Teenage Angst“ ein Ventil verleihen konnten – und die Erwachsenenwelt staunte über Damien, Audrey Rose, Carrie & Co..
THE OA erweitert das Spielfeld und lässt die Nahtoderfahrene Prairie Johnson, eine 28-jährige Frau (die allerdings eher wie 20 wirkt) ein irres Leben durchlaufen. Zu Beginn der Serie kehrt die blinde Frau nach sieben Jahren Verschwundensein sehend zu ihren Adoptiveltern zurück. Ihre Geschichte erzählt sie an festgelegten Abenden auf einem geheimen Dachboden einer kleinen, ausgewählten Gruppe von drei Jungs und einer Lehrerin.
Schon der Weg, wie sie zu ihren Adoptiveltern kam, ist voller Mystik. Als Tochter eines russischen Oligarchen wurde sie bei einem Mafiaüberfall in einen See geschleudert und ertrank. Im Tod gab ihr ein Mädchen namens Khatun die Möglichkeit, wieder zu leben – und nahm ihr dafür das Augenlicht. Als ihr russischer Vater, der sie aus Sicherheitsgründen in eine Schule in den USA schickte, starb, wurde sie adoptiert. Von ihren Adoptiveltern allerdings rennt sie eines Tages weg und läuft „Hap“ in die Arme.
Der smarte, sensible Hap bemerkt sofort, dass es sich bei Prairie um einen Menschen mit Nahtoderlebnis handelt. Deshalb spricht er sie überhaupt erst an, und er kann sie leicht davon zu überzeugen, dass sie mit ihm kommt. Er betreibt wissenschaftliche Forschungen exakt zu dem Thema. Doch sie landet manchmal zwar in Haps Labor, meist aber in Haps Keller: in einem von vier Glaskäfigen, in denen junge Leute mit Nahtoderfahrungen eingesperrt sind. Homer, Scott, Rachel und Prairie – sie alle werden einzeln weiteren Nahtodexperimenten ausgesetzt. Sie werden von Hap umgebracht, wieder ins Leben zurück gebracht, getötet, wiederbelebt – und schmieden untereinander Pläne, um zu flüchten, verzweifeln.
Ist Hap ein Serienmörder, der seine Opfer immer wieder erwecken kann, um sie von Neuem zu töten? Oder führt Hap nicht viel mehr die extremste Art der Misshandlung durch: Menschen töten, wiederbeleben, töten, wiederbeleben. Die wohl brutalste Foltermethode überhaupt.
Diese Nahtod-Folter wendet Hap an, um das Geheimnis des Jenseits zu lüften. Mehr als nur die Macht über Körper zu besitzen, mehr selbst als die Macht über Geist und Seele (die Macht über den Willen erlangt er nicht) sucht er jenseits der Todesmarkierung etwas Allgemeingültiges und Machtvolles – ein Wissen, das ihn im Diesseits stärken wird. Tatsächlich scheint es in diesen Ebenen des Jenseits solche Dinge zu geben. Es sind die fünf Sätze („Movements“), die interdimensionale Reisen ermöglichen. Das Wissen um die fünf Movements finden die gefangenen Jugendlichen in ihren Nahtoderlebnissen: Da hören sie den Klang der Saturnringe, werden vom „Todesengel“ Khatun an seltsame Erlebnisse herangeführt, haben diese unentzifferbaren Narben auf dem Rücken, die Aufschluss geben können über einige der Movements.
Nicht alle dieser geheimnisvollen Zusammenhänge werden erklärt (obwohl das Screenwriter-Duo Brit Marling und Zal Batmanglij jedes Geheimnis bis ins letzte Detail durchdacht hat) – und manch einer vergleicht das Mysteriöse der Serie deshalb bereits mit TWIN PEAKS oder LOST. Nicht zu Unrecht, auch wenn THE OA ganz anders funktioniert.
In THE OA (Prairies zweiter Name bedeutet natürlich „THE AWAY“) werden einige Gesetze des Mysteryfilms neu geschrieben, basierend auf der faszinierenden Grundidee des Nahtods. Trotzdem operiert die Serie auch mit den klassischen Spannungsbögen: Fluchtversuche, Gefangenschaften, Tode und Wiederbelebungen, Grausamkeiten und schliesslich: Ist Prairies Geschichte überhaupt wahr oder doch nur faszinierend erfunden? Wir können nur spekulieren, denn wie Prairie selbst sagt: „Wissen ist ein Gerücht, so lange es nicht im Körper ist.“ Das beschreibt nicht nur, worunter der „Wissenschaftler“ Hap leidet. Das ist gewissermassen die Essenz der Serie.
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The OA, USA 2016/17 | Creator: Zal Batmanglij, Brit Marling | Regie: Zal Batmanglij | Mit: Brit Marling, Emory Cohen, Scott Wilson, Alice Krige, Phyllis Smith, Jason Isaacs, u.v.a. | Laufzeit: 480 Min.