Das Genre der Polizieschi erfreute sich in Italien Ende der 1960er Jahre wachsender Beliebtheit. Thematisch mit den amerikanischen Polizei- und Gangsterfilmen verwandt, und oft genug von diesen inspiriert, blieben die italienischen Interpretationen jedoch näher an der ungeschminkten Realität des Gangsterlebens. Der Verzicht auf jegliche verklärende Romantisierung machte den Raum frei für exploitative Schauwerte und die Filme damit oft interessanter als ihre amerikanischen Vorbilder. Zimperlich war man nie, was Sex und Gewalt betraf, und fügte ganz nebenbei oft auch einen sozialkritischen Kommentar über die Verhältnisse im Staat hinzu. Mit MILANO KALIBER 9 veröffentlicht filmArt nun einen der bedeutendsten Vertreter des Genres in einer sehr empfehlenswerten Edition als Blu ray/DVD Combo. Fernando Di Leos Film ist der erste Teil seiner Gangstertrilogie, die mit DER MAFIABOSS fortgesetzt wurde und mit DER TEUFEL FÜHRT REGIE ihr Ende fand.
Die FilmArt-Edition von MILANO KALIBER 9 enthält neben der deutschen auch die mehr als sechs Minuten längere italienische Kinofassung. Beide Versionen sind mit deutscher Tonspur vorhanden. Die fehlenden Stellen sind in italienischer Sprache und deutsch untertitelt. Herausgekürzt wurden seinerzeit mitnichten Gewaltszenen, sondern ausschließlich Gespräche unter Polizisten, und damit fast völlig der politische Subtext des Films. Die Diskussionen des frisch versetzten Inspektors mit seinem altgedienten Kollegen und Vorgesetzten zeugen exemplarisch vom Konflikt zweier Wertesysteme, wie er mit dem Aufkommen der studentischen 68er-Bewegung an der Tagesordnung war. Auf der einen Seite der linksidealistische, kritisch denkende junge Mensch, der die Ursachen der Kriminalität in der Gesellschaft sucht, auf der anderen der träge, faschistoide Repräsentant eines korrupten Staates, dem es den Gangstern gar nicht brutal genug an den Kragen gehen kann, und der auch gerne mal wegschaut, wenn es bei Gewalttaten den Richtigen trifft. Wem die Sympathie des Regisseurs gehört, wird in diesen Szenen mehr als deutlich – wen die für die deutschen Kürzungen Verantwortlichen bevorzugten, allerdings auch. Gerade diese bislang fehlenden Szenen sind es, die eine weitere Bedeutungsebene erschließen lassen und das Schicksal Ugos sozialkritisch kommentieren. Dass Di Leo am Ende ein ausgesprochen pessimistisches Fazit zieht, liegt in der Natur der Sache – und ist bei heutiger Sichtung von erschreckender Aktualität, denn viel verändert hat sich seit 1971 offenbar nicht.
Kameramann Franco Villa hat das Geschehen in dynamischen Bildern eingefangen, die neben sorgfältig vorausgeplanten Bewegungen (sehr schön die Art und Weise, wie er Innenräume erschließt) oft auch eine improvisatorische Qualität haben, die dem Gefilmten einen gewissen Realismus verleiht. Akustisch ergänzt wird die visuelle Ebene von Luis Bacalovs wunderbar melancholischem Soundtrack. So wie Bacalovs Hauptthema immer wieder in energiegeladene funkig-rockige Passagen der italienischen Progressive Rock Band Osanna übergeht, wechselt auch das Tempo des Films von ruhigen Momenten zu deftigen Gewaltausbrüchen. Bacalov hatte übrigens schon vorher mit Di Leo an einem Projekt gearbeitet, als er die Musik zu DJANGO komponierte, für den Di Leo wiederum zwar nicht als Regisseur tätig war, sondern das Drehbuch schrieb. Großartig ist Barbara Bouchets delirierende Tanzszene im Stripclub, bei der Ton und Bild zu einer perfekten Einheit verschmelzen. Überhaupt bietet die einzige Frauenfigur im Film einige überraschend emanzipatorische Nuancen, denn Frau Bouchet als Freundin Ugos ist hier einmal mitnichten ausschließlich das Sexobjekt, das sie in vielen anderen Filmen verkörpert.
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Milano Calibro 9, Italien 1971 | Regie: Fernando Di Leo | Darsteller: Gastone Moschin, Mario Adorf, Lionel Stander, Barbara Bouchet, Frank Wolff u.a. | Laufzeit: 100 min.
Anbieter: filmArt