Vom Schauspieler zum Regisseur.

Die Schauspieler für seine ersten Regiearbeiten rekrutierte Ulli Lommel aus dem Umfeld der Münchner „Kommune 1“ in der kulturellen Umbruchzeit der späten 60er Jahre:
„Viele meiner damaligen Weggefährten griffen zur Waffe und sind heute tot. Ich hingegen drehe Filme in Hollywood“.
Nun ist auch Ulli Lommel tot.
Er verstarb nur wenige Wochen vor seinem 73. Geburtstag an den Folgen einer Herzoperation. Die Kamera behielt er bis zuletzt in der Hand.
Als einzigartiges Bindeglied zwischen deutscher und amerikanischer Filmkultur, zwischen Mainstream und Kunst wird durch den Tod von Ulli Lommel eine nicht mehr zu füllende Lücke gerissen.

Als Sohn von Ludwig Manfred Lommel wurde Ulli 1944 im damals noch deutschen Zielenzig sozusagen ins Rampenlicht hineingeboren.
Die Schule war ihm nach eigenen Aussagen verhasst. Jedoch resultierte aus dieser Ablehnung keineswegs ein Bildungsdefizit. Seine Sprache war gewählt, sein kulturelles Wissen umfassend, seine Interessen breit gefächert.
Nach seiner Schauspielausbildung schaffte es Lommel, sich bereits in jungen Jahren (ab 1962) als Fernsehschauspieler zu etablieren. Durch Kinoproduktionen kam er schnell in Kontakt mit deutschen Filmgrößen, z. B. in DIE ENDLOSE NACHT (1963) von Will Tremper mit Mario Adorf (und Dieter Wedel), durch Filme von Alfred Weidenmann mit Heinz Rühmann, Lilli Palmer, Hildegard Knef und Maria Schell.
Einen ersten Höhepunkt in seiner Schauspielkarriere erlebte Lommel durch seine Verpflichtung als jugendlicher Liebhaber in Russ Meyers FANNY HILL (1964).
„Damals war ich noch sehr jung und unsicher. Ich hatte meinen Stil als Schauspieler noch nicht gefunden. Daher war es auch nicht leicht, unter der ruppigen Regie von Meyer zu arbeiten. Irgendwann wurde die Regie von Albert Zugsmith, dem Produzenten, weitergeführt, welcher auch nicht einfacher war…erst im Lauf der Zeit fand ich schauspielerisch meinen Weg. Ich spielte fortan recht zurückgenommen und versuchte eher mittels kleiner Gesten und Ausdrucksweisen meine Darstellung“.
Detektive_Poster Lommels Rolle in Rudolf Thomes DETEKTIVE (1969) führte nicht nur zur Liaison mit Iris Berben, sondern stellte auch durch Uschi Obermaier die erwähnte Verbindung zur Münchner Kommunardenszene her. Zu dem ebenfalls mitwirkenden Peter Berling entwickelte sich eine lebenslange Freundschaft.
1969 blieb auch das Jahr, welches durch eine ganz entscheidende Bekanntschaft Lommels Leben nachhaltigst beeinflussen sollte: Lommel lernte Rainer Werner Fassbinder kennen, in dessen Erstling LIEBE IST KÄLTER ALS DER TOD Lommel nicht nur die männliche Hauptrolle bekleidete, sondern dessen Produktion Lommel durch seinen finanziellen Einsatz überhaupt erst ermöglichen sollte.
Über die Anfänge Fassbinders wurde viel geschrieben. Am aufschlussreichsten, gerade auch im Hinblick auf die Rolle Lommels, sind die Interviews, welche Michael Töteberg unter „Die Anarchie der Phantasie“ herausgegeben hat (und welche später durch Robert Fischer in „Fassbinder über Fassbinder“ nochmals veröffentlicht wurden).
Liebe_ist_kälter_als_der_Tod Die Publikumsreaktion auf LIEBE IST KÄLTER ALS DER TOD war ablehnend. Weder für Lommel noch für Fassbinder war zu erahnen, dass durch diesen gemeinsamen Film bereits das solide Fundament für die nächsten Jahre gelegt sein sollte.
Doch das Jahr ’69 brachte noch weitere wichtige Kontakte:
Durch die Hauptrolle in DEINE ZÄRTLICHKEITEN (1969) von Bernhard Wicki lernte Lommel nicht nur Peter Schamoni kennen, welcher noch viele Jahrzehnte später mit Lommel zusammenarbeiten sollte, sondern vor allem einen jungen Kameramann: Michael Ballhaus
Nicht unerwähnt bleiben sollte auch eine erste Begegnung mit Jess Franco, welcher in DEINE ZÄRTLICHKEITEN eine Nebenrolle spielte.
„Den Jess Franco fand ich ja total wahnsinnig. Ich habe ihn später bei den Dreharbeiten zu WHITY in Almeria wiedergetroffen. Er drehte dort in dem gleichen Haus wie wir. In einer Drehpause geriet ich in die Dreharbeiten von Jess. Er hatte die Kamera in ein Zimmer gerichtet, drehte sich nach der Aufnahme mit der Kamera um und filmte für einen anderen Film in das gegenüberliegende Zimmer. Wie toll!!!“
Eine Jahrzehnte später anberaumte Zusammenarbeit zwischen Franco und Lommel scheiterte, da Jess Franco nach Lommels Drehbuchbearbeitung den Eindruck hatte, Lommel nähme das Projekt nicht ernst genug…
Doch Lommel begnügte sich nicht mit der Rolle des Schauspielers. ANGLIA (1970) von Werner Schroeter (hinter der Kamera Jörg Schmidt-Reitwein, welcher später einige der wichtigsten Filme Werner Herzogs ins Bild setzen durfte) wurde bereits von ihm coproduziert, ebenso wie Fassbinders Südstaatenmelodram WHITY. Lommel empfahl Fassbinder Michael Ballhaus als Kameramann und stellte damit sowohl für Fassbinder als auch für Ballhaus die entscheidende Weiche ihrer Karriere. Es ist retrospektiv kaum zu überblicken, in welchem Ausmaß Ulli Lommel hierdurch Filmgeschichte beeinflusst hat.
Weitere Rollen Lommels unter Fassbinder, z.B. im überragenden WARNUNG VOR EINER HEILIGEN NUTTE (1970), folgten.
Haytabo 1971 endlich wagte Lommel die konsequente Fortführung seiner kreativen Ambitionen: mit HAYTABO, seiner ersten Regiearbeit, prominent besetzt mit Eddie Constantine, Uschi Obermaier, Rainer Langhans und Rainer Werner Fassbinder. Die Produktionsbedingungen waren höchst limitiert, das Drehverhältnis entsprechend niedrig, und Lommels Inszenierung differierte von der seines Vorbildes Fassbinder vor allem durch ein ganz offensichtlich wesentlich ausgeprägteres Maß an Spontaneität.
HAYTABO war nicht nur das Erstlingswerk Lommels, sondern auch seines Kameramanns, Lothar E. Stickelbrucks, welcher in Folge noch weitere vier Filme Lommels einfangen sollte.
„Stickelbrucks war ein sehr guter Kameramann. Was Innenaufnahmen anging, konnte Jürgen Jürges besser mit dem Licht spielen, aber vor allem Außenszenen waren Stickelbrucks‘ Stärke.“
Diese Stärke konnte Stickelbrucks einige Jahre später unter Beweis stellen, als er mit MALADOLESCENZA (1977) von Pier Giuseppe Murgia Gelegenheit bekam, eines der prägnantesten Meisterwerke des europäischen Kinos einzufangen.
Der_Mafiaboss Ein weiteres Filmprojekt Lommels 1972 mit Götz George vor und Ballhaus hinter der Kamera blieb unvollendet. Im selben Jahr hatte Lommel jedoch Gelegenheit, eine Nebenrolle in DER MAFIA BOSS unter der Regielegende Fernando di Leo zu spielen.
„Di Leo war nicht unangenehm. Unangenehm waren aber die italienischen Produzenten, welche sich als reine Verbrecher erwiesen…“.
Eine Hauptrolle bekam Lommel 1972 von seinem Freund Robert van Ackeren in HARLIS, Seite an Seite mit Rolf Zacher.
Harlis „Mit Rolf Zacher zog ich viel in der Gegend herum. Wir waren damals sehr angesagt in der Frauenwelt. Wir witzelten dann immer, welche Dame wir heute noch ‚berücksichtigen’ können und welche heute leer ausgeht…Ich hatte damals das Glück, dass ich dem Idealbild entsprach: Groß, schlank, dunkle Haare, dunkle Augen…heute hat sich der Geschmack deutlich geändert, da hätte ich diese Möglichkeiten nicht mehr gehabt“.
Zärtlichkeit_der-Wölfe 1972 sollte Lommel seine nächste Regiearbeit in Angriff nehmen. Unter Produktion von Fassbinder verfilmte er ein Fritz Haarmann-inspiriertes Drehbuch von Kurt Raab, welcher auch die Hauptrolle übernehmen sollte. Zur Arbeit hinter der Kamera ermutigte Lommel einen Mann, welcher bislang nur die Scheinwerfer setzen durfte: Jürgen Jürges. Fassbinder gab den Titel: DIE ZÄRTLICHKEIT DER WÖLFE.
Der poetisch-gefühlvoll inszenierte Film, der auch manchen Tabubruch nicht scheute, geriet zum düsteren Meisterstück.
„Auf der Premiere wurde der Film begeistert beklatscht. Fassbinder stand gekränkt auf, raunzte ‚Gut, dann macht der Lommel eben bessere Filme als ich’ und verließ den Saal…“
Für Lommel öffnete sich durch seine künstlerische Leistung manch entscheidende Tür, wenn auch der finanzielle Erfolg angesichts des Themas nur gering ausfallen konnte. Auch für Kameramann Jürgen Jürges bedeutete der Film (zurecht) den Start in eine bis heute andauernde Karriere.
Zärtlichkeit_der-Wölfe_Poster Der Ruf des Films wurde im Lauf der Jahrzehnte weiter zementiert. DIE ZÄRTLICHKEIT DER WÖLFE ist heute als überragendes Ausnahmeereignis des deutschen Autorenfilms der frühen siebziger Jahre anerkannt.
„Auf die Frage, welches der meiner Meinung nach beste Film ist, den ich gemacht habe, antworte ich manchmal ADOLF UND MARLENE. Meist jedoch antworte ich DIE ZÄRTLICHKEIT DER WÖLFE…“.
Lommels nächster Film, gedreht im Winter ’73/74, war von Lommel gänzlich anders geplant als das, was schließlich auf der Leinwand zu sehen war:
„Das sollte mein ‚Bunuelfilm’ werden. Surrealistisch, irritierend, herausfordernd, zynisch und voll von hintergründigem Humor. Aber die Produzenten haben den Film umgearbeitet und mit diesem vollkommen unpassenden Titel versehen – JODELN IS KA SÜND – , um sich an den aktuellen Trend zu hängen. Fassbinder wurde natürlich nicht müde, sich darüber lustig zu machen und mich damit aufzuziehen: ‚Wo ist denn der Ulli? – Ach, dreht der gerade JODELN IS KA SÜND, TEIL 2 !?’. Aber wenn man genau hinsieht, kann man meine ursprüngliche Intention noch aus dem Film herauslesen…“
1974 drehte Ulli Lommel seinen vierten Film als Regisseur, den beachtenswerten, leider jedoch recht unbekannt gebliebenen WACHTMEISTER RAHN (Videotitel: EIN MANN DREHT DURCH), welcher in gewissen Erzählstrukturen Argentos L’UCCELLE DALLE PIUME DI CRISTALLO nicht unähnlich ist, mit Hans Zander in der Hauptrolle und abermals Stickelbrucks hinter der Kamera.
1976 übernahm Lommel die Hauptrolle in SCHATTEN DER ENGEL (basierend auf einem Fassbinder-Stück) von Daniel Schmid, welcher ein lebenslanger Freund blieb. Weitere Zusammenarbeiten folgten.
Von den zahlreichen schauspielerischen Einsätzen, welche Lommel in der ersten Hälfte der siebziger Jahre unter Rainer Werner Fassbinder absolvierte, wäre ausnahmslos jeder einer ausführlichen Erwähnung wert. Da diesbezüglich jedoch bereits Unmengen an Beschreibungen und Analysen zu finden sind, soll hier nicht weiter darauf eingegangen werden. Keinesfalls unerwähnt bleiben sollte jedoch der Film CHINESISCHES ROULETTE (1976), welchen Fassbinder „für“ Lommel gedreht hat, um dessen Lebenssituation mit der ebenfalls auftretenden Anna Karina zu reflektieren, und der zudem einige der kompliziertesten technischen Bravourstücke enthält, welche Kameramann Ballhaus jemals vollbracht hat.
Auch als (Synchron-)Sprecher konnte sich Lommel bereits in den sechziger Jahren etablieren. So durfte er unter anderem Robin in BATMAN AND ROBIN (1966) seine Stimme leihen. Und ihm fiel die Ehre zu, den deutschen Kommentar zu Romano Vanderbees Amerika-Mondo THIS IS AMERICA (1978) einzusprechen.
Mit DER ZWEITE FRÜHLING sollte 1976 ein weiterer Höhepunkt in Lommels filmischem Schaffen entstehen. Aus der ungewöhnlichen Geschichte, mit Curd Jürgens prominent besetzt, wurde dank außergewöhnlicher Darstellerleistungen und der brillanten Inszenierung eine weitere Bravourleistung, trotz der für Lommel unbefriedigenden Entstehungsgeschichte:
Adolf_und_Marlene „Ich konnte lange Zeit nicht zu dem Film stehen. Ich habe ihn einfach nicht als meinen Film betrachtet. Die Zusammenarbeit mit den italienischen Produzenten war eine Katastrophe, sie haben in meine Arbeit reingeredet, bis ich schließlich mit der Fertigstellung nichts mehr zu tun haben wollte und Italien wieder verlassen habe. Im Rahmen des Ärgers kam es auch noch zur Trennung von meiner damaligen Freundin Barbara, welche als ‚Irmgard Schöne’ die weibliche Hauptrolle spielte. Erst im Lauf von vielen Jahren konnte ich den Film auch als meinen Film annehmen…“.
Lommel drehte Italien den Rücken. Seine nächste Regiearbeit entstand wieder in Deutschland, wieder unter der Produktion Fassbinders, wieder mit dem exzellenten Kurt Raab in der Hauptrolle, und deutsch war auch das Thema: ADOLF UND MARLENE (1977) war der Titel des nächsten Films, welcher Hitler sich in Marlene Dietrich verlieben lässt. Mit Ballhaus hinter der Kamera gelang Lommel ein weiteres Meisterwerk. Lange Zeit war der Film kaum zugänglich, heute befindet er sich im Bestand des Bundesarchivs.
Lommel blieb vorerst der Komödie treu, aber wählte für seinen nächsten Film ein unverfänglicheres Thema. In AUSGERECHNET BANANEN (1978) sollte nicht der Führer im Vordergrund stehen, sondern ein Schimpanse. Lommel hat gute Erinnerungen:
„Bei den Dreharbeiten habe ich das großartigste überhaupt erlebt: Der Affe hatte seine Szene, doch er dachte gar nicht daran, das zu tun, was wir wollten. Er sah uns nur an, mich und den Kameramann. Auf einmal hält er seine Hand unter den Hintern und kackt hinein. Und was macht er dann? Er holt aus, und wirft die ganze Scheiße dem Kameramann ins Gesicht. Das war das überhaupt beste, was ich in meinem ganzen Leben erlebt habe!!!“