Eine atemberaubende Charlize Theron mit Sonnenbrille und Overknee-Stiefeln, die sich 1989 durch das undurchschaubare, dreckige und dunkle Berlin vor der Wiedervereinigung spioniert und ballert, und das zu bester Synthiemusik der Zeit („Personal Jesus“, „Behind the Wheel“ und „Bue Monday“): Wer den Trailer zur Comicverfilmung ATOMIC BLONDE gesehen hat, schraubte automatisch seine Erwartungen in die Höhe. Auch wenn man bei einem Stuntman-wird-Regisseur wie David Leitch (JOHN WICK) eigentlich ahnen konnte, dass Action vor Ausgeklügeltheit stehen würde.
Trotzdem gibt sich der Film sehr viel Mühe, nebst den Action-Szenen eine komplexe Agentenstory zu konstruieren, was ihm ansatzweise durchaus gelingt. Nicht auf höchstem Level und manchmal etwas aufgesetzt undurchschaubar, aber immerhin verliert man nicht das Interesse an den Hintergründen. Denn es gibt bestimmt genug Vordergründiges, will sagen: Kampfaction. Wobei die Kampfaction öfter nicht von schlechten Eltern ist. Ideenreich und den Vorteil nutzend, dass Agentin Lorraine Broughton (Charlize Theron) den durchtrainierten Wandschränken von Männern physisch unterlegen ist und das mit Dynamik und Kreativität wettmacht. Und gegen Ende des Films erleben wir sie in einer langen, atemberaubenden und brutalen Plansequenz, die mit unglaublichem Aufwand gefilmt wurde.
Was geschah denn in Berlin kurz vor dem Mauerfall? Weil sich der Eiserne Vorhang plötzlich durchlässig und schwach zeigt, ist die Agentenszene in Berlin angeblich durchdrungen wie nie von wechselwilligen Spionen und undurchsichtigen Aufträgen. „Berlin is the Wild West“ lautet die kühne Behauptung des Films. Wer spioniert für wen? Lorraine soll für Klarheit sorgen und wird anschließend vom MI6 in Anwesenheit der CIA kritisch befragt. Lorraine, die in ihrer Einführungsszene in einer Wanne voller Eiswürfel badet und Vodka trinkt, immer cool, kaltschnäuzig und überlegen, immer sexy und wissend, mag es gar nicht, dass der CIA-Typ anwesend ist. Sie wird sich aber später in ihrem ganz eigenen Opportunismus (Doppel-, Tripel-, Whatever-Agentin) mit der Siegermacht verbünden. Denn es gehört zur traurigen Logik des Films, dass man sich als Agent einfach dem meistbietenden oder dem Sieger anbietet. Kein Vergleich zu Agenten, die noch Format hatten wie James Bond, der durchaus die CIA zu brüskieren wagte, oder Harry Palmer, der sich offen auf die Seite der Sowjetunion stellte (z.B. in BILLION DOLLAR BRAIN von 1967).
Der Grund, weshalb sich Lorraine durch die anarchischen Zustände Berlins kämpft, ist ein Mikrofilm mit einer Liste aller Geheimagenten in Berlin. Für alle Geheimorganisationen ein gefundenes Fressen, für die Agenten selbst natürlich eine existenzielle Bedrohung. Die Kontaktperson des MI6 in Ostberlin, David Percival (James McAvoy), genießt offenbar sein Pendlerleben zwischen West und Ost und zeigt sich alles andere als vertrauenswürdig. Im Gegenteil: Er belügt Lorraine oft und hält Informationen zurück. So wird etwa der schwierigste Auftrag noch dadurch erschwert, dass der Mann mit der Liste, Stasi-Spion „Spyglass“ (Eddie Marsan), auch seine Familie mit über die Grenze geschmuggelt haben will – was er mit Percival abgemacht hatte, wovon Lorraine jedoch nie etwas erfuhr.
Die Welt der Spione ist hier die Welt, in der man sich auf niemanden sonst verlassen kann. Wer zu leichtgläubig ist, ist nicht überlebensfähig. Die französische Agentin Delphine Lasalle (Sofia Boutella) hätte „lieber Dichterin oder Rockstar“ werden sollen – hier ist sie fehl am Platz. Außer natürlich, dass sie beinahe so sexy ist wie Lorraine und die beiden klugerweise auch sexuelle Beziehungen nicht auf Männer ausweiten, sondern sich von Frau zu Frau den erotischen Spielereien in den mit blauem und pinkem Neonlicht durchtränkten Bars und Hotelzimmern hingeben.
Die DVD von Universal bietet einiges an Bonusmaterial. Filmkommentare, die Konstruktion der erwähnten Kampfszene, eher Banalitäten zu Berlin, der Blondine Charlize und Meisterspionen und einige unveröffentlichte Szenen. Wer sich dem Sog der tollen Agentin mit dem Soundtrack von Depeche Mode, New Order, Siouxsie and the Banshees („Cities in Dust“), David Bowie („Cat People“ – ein berühmter Filmsong wird erneut verwendet!) nicht entziehen kann und über Ausfälle wie „99 Luftballons“ und „Major Tom“ hinweghört, wird mit DVD und Film durchaus Freude haben. Es ist ja immerhin eine Comicverfilmung – und die bringen ja sehr oft keine allzu packenden Stories zustande.
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Atomic Blonde | USA 2017 | Regie: David Leitch | Drehbuch: Kurt Johnstad | Darsteller: Charlize Theron, James McAvoy, John Goodman, Toby Jones, Sofia Boutella, Eddie Marsan, Till Schweiger | 115min.
Anbieter: Universal