Erinnerungen. Momentaufnahmen der Vergangenheit gespiegelt in der Wahrnehmung des Jetzt. Denkt man an die Kindheit zurück, sind da einzelne Bilder geblieben. Mit den Bildern kommen die Emotionen, die in ihrer Spezifität nur im eigenen Universum entstehen können. In ähnlicher Weise funktionieren die Werke des französischen Regieduos Hélène Cattet und Bruno Forzani. Ihre Filme sind der Vergangenheit verhaftet, experimentelle Collagen von Bildern des Kinos der 1960er und 1970er Jahre; niemals reine Zitate, sondern Reminiszenzen an eine vergangene cineastische Epoche mit ihren spezifischen Genres. Damit umgibt sie immer auch der nostalgische, wenn nicht melancholische Hauch der Vergänglichkeit. Szenen, Einstellungen, Montagen mögen bekannt erscheinen, bleiben in ihrer Verortung aber immer unscharf und entpuppen sich bald als eine Art rückerinnerte Realität. Das macht Cattet & Forzanis Filme zunächst einmal zu extrem persönlichen Verarbeitungen von Erinnerungen, deren Eklektizismus Aufschluss über die Art der Wahrnehmung des Ehepaars zu geben vermag. Fred Madison aus David Lynchs LOST HIGHWAY kommt in den Sinn, wenn er sagt „I remember things my way, not necessarily the way they happened.” Würde er Filme drehen, könnten diese ähnlich aussehen.
Hatten sich die Regisseure in AMER und DER TOD WEINT ROTE TRÄNEN (L’ÉTRANGE COULEUR DES LARMES DE TON CORPS) noch an der Bilderwelt der Gialli abgearbeitet, wenden sie sich in LEICHEN UNTER BRENNENDER SONNE (LAISSEZ BRONZER LES CADAVRES) den Italowestern und Polizieschi zu, und auch Jodorowsky ist nicht weit. Nach einem Überfall auf einen Goldtransporter flieht eine Gangsterbande zu einem halbverfallenen Weiler irgendwo auf einer Anhöhe an der Küste Korsikas. Dort trifft sie auf eine anarchistische Malerin mit ihren zwei Liebhabern. Als sich noch drei unbedarfte Touristen und schließlich zwei in schweres Leder gekleidete Motorradpolizisten eher zufällig dazugesellen, ergibt sich eine explosive Mischung, die sich jäh in einer gnadenlosen Gewaltorgie entlädt, bei der bald immer mehr verschwimmt, wer auf welcher Seite steht. Die Gier nach 250 Kilo Gold wird allen zum Verhängnis.
LEICHEN liefert nicht mehr nur einen inneren Zusammenhang wie AMER mit seiner introvertierten Traumlogik, sondern folgt schon eher einer äußeren Narration, die jedoch mehr als Ordnungssystem für die brachiale Bilderflut dient, mit der die Regisseure den Zuschauer bombardieren. Mit seiner Reduktion auf einen Handlungsort wird LEICHEN spätestens in der zweiten Hälfte zu einer abstrakten, fast dialoglosen Variation von Wheatleys Ballerorgie FREE FIRE – hier unter der brennenden Sonne Korsikas statt in einem abgelegenen Lagerhaus: Jeder gegen Jeden. Als Vorlage diente Jean-Patrick Manchettes Kultroman „Lasst die Kadaver bräunen“. Manchettes dem Neo-Noir zugerechnete Kriminalgeschichten sind ob ihrer kargen, reduzierten Sprache an sich schon filmisch. Cattet & Forzanis haben die ohnehin schon wortkarge, spartanische Story aber noch weiter von allem Ballast befreit. Eine narrative Skizze, die wie ein Malbuch genutzt und mit bunten Farben ausgemalt wird. Die Frage nach einer packenden, guten Geschichte stellt sich damit nach wie vor nicht, denn die Regisseure haben anderes im Sinn. Die visuelle wie auch die akustische Ebene liefern hier wieder den direkten Zugang zum Filmgedächtnis des Zuschauers und den damit abgespeicherten Emotionen. Damit wird LEICHEN zu einer visuellen Erfahrung, die ein jeder für sich individuell erleben wird. Selbst bar einer ausgeprägten persönlichen Filmhistorie bleibt immer noch eine Sammlung von streng durchkomponierten, eindrucksvollen ästhetischen Bildern und ein Paradebeispiel für die Macht und Wirkung des Bildes im Greenawayschen Sinn – als symbolhaft-narrativer Gegenentwurf zur rein illustrierenden Funktion, wie sie oft massenkompatiblen Großproduktionen zu eigen ist. The media is the message. Hier ist jede Einstellung mit Bedeutung aufgeladen – oder eben nicht. Von der persönlichen Rezeption wird es auch abhängen, inwieweit man dem neuen Werk des begnadeten Regieduos etwas abgewinnen kann. Was bleibt ist eine delirierende Bilderorgie, die man ob seiner Länge durchaus als ermüdend empfinden kann, die den Zuschauer am Ende aber in einer Art Rausch in den Alltag entlässt.
In Kürze erscheint LEICHEN UNTER BRENNENDER SONNE auch in Deutschland bei Koch Media. Die Blu-ray wird sowohl dem Soundtrack, der sich u.a. aus dem Oeuvre Morricones und Fidencos bedient, als auch der primärfarbengetränkten Pracht des auf Super 16mm gedrehten Films voll gerecht. Leider finden sich außer einem deutschen und einem französischen Trailer keinerlei Extras auf der Disc. Aber dafür haben wir schließlich das Interview geführt.
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Laissez Bronzer Les Cadavres / Let the Corpses Tan, Frankreich/Belgien 2017 | Regie, Drehbuch: Hélène Cattet, Bruno Forzani | Schnitt: Bernard Beets | Produktion: François Cognard, Eve Commenge | Kamera: Manuel Dacosse | Mit: Elina Löwensohn, Stéphane Ferrara, Bernie Bonvoisin, Hervé Sogne, Marc Barbé, Dorylia Calmel u.a. | Laufzeit: 90 Min.
Anbieter: Koch Media