Marquis de Sade im Wilden Westen.

Früher wies so ein Film eine Länge von eineinhalb Stunden auf, hieß Exploitation Movie, spielte in einem kleinen Schmuddelkino und hangelte sich von schauderhafter Szene zu schauderhafter Szene. BRIMSTONE dagegen dauert zweieinhalb Stunden, protzt mit opulenter Ausstattung und berühmten Schauspielern, suggeriert mit Kapitelgebung und Zeitsprüngen Tiefgang und hangelt sich ebenfalls von schauderhaften Szenen zu schauderhaften Szenen. So hat sich die Welt verändert.

Brimstone_Poster BRIMSTONE (dt. Schwefel) ist ein Film über christlichen Wahn in der Pionierzeit des Wilden Westens, Unterdrückung von Frauen und springt quer durch die Bibel und ihre übelsten Exegesen. Der Filmtitel bezieht sich auf das biblische Bildnis „Feuer und Schwefel“, das in vielen Passagen des Alten wie Neuen Testaments Gottes Zorn und Bestrafung zum Ausdruck bringt, vom Regen aus Schwefel und Feuer über Sodom und Gomorrha bis in die Offenbarung des Johannes.

So heißt auch gleich das erste Kapitel „Revelation“ („Offenbarung“). Die stumme Liz (Dakota Fanning) lebt mit ihrem Ehemann und zwei Kindern auf einem bescheidenen Hof in einer tristen Umgebung an der Frontier. Sie leben von etwas Ackerbau, bescheidener Schafzucht und manchmal von Liz’ Fähigkeiten als Hebamme. Das wird ihr zum Verhängnis, als sie in der Kirche notfallmäßig entbinden muss und sich jäh zwischen dem Leben der Mutter oder dem des Babys entscheiden muss. Sie entscheidet sich für die Mutter, was ihr nicht nur von deren Ehemann als Verbrechen wider Gottes Wille angelastet wird, sondern auch vom neuen Priester (Guy Pearce, „The Reverend“). Beide fordern ihr Leben ein, das Leben der Familie, das Leben der Schafe. Der religiöse Wahn gebiert nicht nur brutale, unverhältnismäßige Taten – klar wird auch, dass der Reverend anscheinend noch ganz andere Gründe mit sich herumträgt, die stumme Frau physisch und psychisch zu quälen.

Brimstone_4 Das zweite Kapitel „Exodus“ zeigt nicht die Weiterführung der Story, sondern eine überraschende Vorgeschichte. Ein Mädchen, das vor irgend etwas davonrannte, wird in der Wüste von einer Familie aufgegriffen, die sie jedoch im nächsten Wildwest-Dorf ins Saloon-Bordell verkauft. Das minderjährige Mädchen heißt Joanna und wird von nun an „etwas anderes schlucken als Wasser“, wie eine Prostituierte der Unwissenden gegenüber anfangs bemerkt. Joannas beste Freundin ist die Prostituierte Elizabeth Brundy, der von ihrem Zuhälter die Zunge herausgeschnitten wird, während der (noch jüngere) Reverend plötzlich im Bordell auftaucht und es auf Joanna abgesehen hat. Elizabeth versucht Joanna zu schützen und wird dabei vom Reverend getötet – worauf sich Joanna selbst die Zunge abschneidet und Liz’ Identität annimmt: Die neue Liz übernimmt den Fluchtplan der alten und verheiratet sich mit dem Frontier-Witwer aus dem ersten Kapitel.

Brimstone_3 Erst im dritten Kapitel („Genesis“) kommt die grausame wahre Vorgeschichte ans Licht (deren Nacherzählung hier doch zu viel spoilern würde), und im vierten Kapitel findet die Geschichte ihr Ende. Nicht minder grausam.

Das Schicksal der Joanna erinnert wohl nicht zufällig an zwei Heldinnen des Marquis de Sade, ganz viel an den Roman „Justine oder Das Missgeschick der Tugend“ und ansatzweise an „Juliette oder Die Vorteile des Lasters“. Joanna versucht zwar immer mal wieder, sich wie Juliette über die Tugendhaftigkeit des gesellschaftlich-religiösen Rahmens hinweg zu setzen, findet sich aber stets in der Situation der Justine wieder, und wird gröbsten psychischen und physischen Misshandlungen ausgeliefert. Mit ihrer Menschlichkeit (heute würde man sagen: ihrem „normalen Menschenverstand“) wird sie ihr ganzes Leben hindurch zum Opfer einer Männergesellschaft, die zur Entdecker- und Siedlerzeit der Vereinigten Staaten alle ethischen Schranken einer perversen Familien- und Wirtschaftsdoktrin opfert. Aus den Immigranten wurden Fanatiker. Als Familienoberhaupt, als religiöse Führer und als sexuelle Wesen. Wie bei De Sade geht es denjenigen Frauen noch am besten, die mit männlicher Sexualität hantieren müssen.

Brimstone_1 Frauen werden am besten stumm gemacht. Denn wer stumm ist, d.h. keine Stimme hat, kann sich nicht mehr äußern und ausdrücken. Das ist in einem Satz die „religiöse“, blasphemische Entwicklung, die Regisseur und Drehbuchautor Martin Koolhoven in seinem Film nahe legt. Ob das zu banal oder zu brutal daher kommt, darüber streiten sich die Geister. BRIMSTONE wird äußerst kontrovers beurteilt, oft als spekulatives Machwerk verunglimpft und kann sich tatsächlich kaum von seinen schonungslos zelebrierten Abscheulichkeiten emanzipieren. Also doch ein moderner Exploitationfilm?!

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Brimstone | NL/BRD/B/F/Swe/GB 2016 | Regie: Martin Koolhoven | Drehbuch: Martin Koolhoven | Darsteller: Dakota Fanning, Guy Pearce, Carice Van Houten, Kit Harington, Emilia Jones, Paul Andersen | 142 min.

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