Gaspar Noés Kino ist ein absolut körperliches Kino – und gleichzeitig absolut künstlich. Auch CLIMAX vereint wieder beide Pole und ist grenzwertiges Gewaltkino, das behauptet, auf einer wahren Begebenheit im Jahr 1996 zu basieren. Gleichzeitig folgt es, wie alle Filme von Noé, seit dem rückwärts erzählten IRREVERSIBLE (2002), einer eigenen, strengen Struktur – in diesem Fall einfach zu durchschauen, aber nicht minder beeindruckend. Dass der Titelabspann am Anfang kommt, in verzierten Buchstaben nach fast der Hälfte des Films noch einmal (da vor allem die Musikcredits), zeigt, dass da in einer Art Kapitelstruktur gearbeitet wird.
Der Film beginnt mit einem Vorstellungstape, in dem sich mehrere Jugendliche für eine Tanzgruppe bewerben und allerlei Fragen beantworten. Fragen wie „Bist du bereit, alles zu tun dafür?“, „Wie steht es mit Drogen?“ sowie Fragen zu Sex, Gewalt, Tanzunterricht, US-Reise. Eine zugereiste Deutsche aus Berlin bemerkt noch, dass sie die Drogen in Berlin zu viel fand. Das Tape flimmert über ein Fernsehgerät, das von VHS-Kassetten umgeben ist (u.a. der etwas andere Tanzschule-Film SUSPIRIA).
Schnitt in den Raum, in dem sich die gesamte Story in der Folge zutragen wird. In einem mehrminütigen One-Take sehen wir, wie alle diese Tänzerinnen und Tänzer eine unglaublich choreografierte Tanznummer hinlegen. Toll gemacht, natürlich sehr sexy (wie man sich heute so gibt) – ein tänzerisches Abbild heutiger Nachtclubs und Selbstdarstellungen. Junge Frauen präsentieren sich, Brüste, Beine, in aufreizender Weise. Transsexuelle Männer präsentieren sich ähnlich, während Jungs eher wild herumjucken, ihre inneren Zuckungen nach außen tragen. Nach der Performance gibt‘s Kuchen und eine Bowle. Etwas Unterhaltung nach drei Tagen intensivem Training. Während die junge Tanzleiterin ihren kleinen Jungen ins Bettchen legt (dazu bildfüllend der Text „BIRTH IS A UNIQUE OPPORTUNITY“), trinken, rauchen, tanzen und quatschen die Teenager miteinander. Wieder schafft es die Kamera, in langen Plansequenzen von einem zum anderen Protagonisten herumzufloaten und uns so mit allen Persönlichkeiten weiter vertraut zu machen. Die ganze Zeit stampft übrigens die Musik des DJs bzw. der Turntable-Installation im schlechten Klang einer leeren Halle auf uns ein: dumpfe Bassdrums, aggressive Synthgeräusche. Moroder, MARRS, Lil Louis’ „French Kiss“, Chris Carter, Soft Cell und mehr Dancefloor von den späten Siebzigern bis ’96 sind immer irgendwo nervend in unseren Gehörgängen präsent. Die Gespräche sind oft sexuell aufgeladen – besonders die Jungs weiden sich derart in pornografischen Überhöhungen (von „Ich kann nur noch mit zwei Blondinen gleichzeitig“ bis „Wenn du sie in den Arsch fickst, spürst du eben die Scheiße.“), dass im Zuschauer bereits Vorahnungen heranreifen, wie sie sich in betrunkenem Zustand verhalten werden.
Doch Trunkenheit wäre an diesem Abend das kleinere Übel gewesen. Später wird behauptet, jemand habe sowas wie LSD in die Sangria geschüttet. Wie auch immer: Plötzlich gerät der Abend in eine unglaubliche Schräglage. Die Berlinerin pisst trotzig auf den Boden, die attraktive Selva hat ein schlechtes Gefühl. Ein anderes Mädchen wird beschuldigt, die Bowle vergiftet zu haben. Obwohl sie darlegt, dass sie schwanger ist, wird sie von einer anderen Frau zu Boden geworfen und massiv in den Bauch gekickt. Und später von mehreren Jungs gewalttätig angegangen – schließlich ritzt sie sich ihren Körper und das Gesicht aus Verzweiflung. Irrwitzige Jagden und Choreografien durch die angrenzenden Gänge des Tanzstudios folgen. Panik. Die Lehrerin sperrt ihren Jungen im Räumchen mit Stromanschlüssen und Sicherungen ein. Einer Frau werden die Haare mit dem Gasbrenner angezündet. Kein Ausweg aus diesem Haus, die Klaustrophobie in diesem nur künstlich und farbig beleuchteten Gebäude ist zum Anfassen. Der Eskalation wird Tür und Tor geöffnet.
Mit CLIMAX hat Gaspar Noé nicht nur einen Film über Jugendliche heute (oder 1996?) gedreht, sondern auch eine Art Zombiefilm. Die Teens und Twens irren jedenfalls alle ihren Trieben folgend umher.
War anfangs die Disziplin beeindruckend, die sich in der Tanzszene manifestierte – so liefert sie jetzt einen umso größeren Kontrast zum „Freizeitprogramm“, das völlig außer Kontrolle geraten ist. Es scheint, als wüsste niemand so richtig, was mit dem plötzlich privaten Umgang anzufangen sei. Erst will man sich etwas kennen lernen, aber nicht so richtig, lieber etwas belanglos herum- und weitertanzen, oder eben einfach Sex und Drogen konsumieren – bis schliesslich die Stimmung in einer Weise kippt, die eben jene totalen Grenzüberschreitungen triggert. Niemand scheint vernünftig zu bleiben, niemand besitzt die menschliche oder hierarchische Autorität, die Ordnung aufrecht zu erhalten (die Polizei erscheint erst tags darauf). Schließlich laufen (fast) alle nur noch trieb- und angstgesteuert durch die Räume und richten Verheerendes an.
Die Stärke von CLIMAX ist auch, dass er nicht nur formal clever durchkomponiert ist, sondern gleichzeitig auch durchaus reflektierend. Eingestreut werden immer wieder Kommentare, die bildfüllend in klarer Futura-Schrift den Film unterbrechen. So, wie wir das aus den Godardfilmen der sechziger Jahre kennen. Ein Satz wie „DEATH IS AN EXTRAORDINARY EXPERIENCE“ gegen Ende des Films verschärft die Tragik der Erlebnisorientierung in der heutigen Zeit. Nach Noé sollten wir erst einmal die soziale und „emotionale“ Frage lösen.
Das empfehlenswerte Neuchâtel International Fantastic Film Festival zeigte den Film im Wettbewerb. Dass eine Jury rund um Jurypräsident David Cronenberg den Film zum diesjährigen Hauptpreisträger machte, verwundert nicht. CLIMAX ist bedrohlich, beängstigend, ähnlich zombiehaft wie Altmeister Cronenbergs SHIVERS, und hinterlässt ein nachhaltig ungutes Gefühl in der Magengegend.
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Climax | Frankreich 2018 | Regie: Gaspar Noé | Drehbuch: Gaspar Noé | Darsteller: Sofia Boutella, Romain Guillermic, Souheila Yacoub etc. | 95 min.