Mit der Reihe „Phantastische Filmklassiker“ hat Anolis Entertainment eine neue Edition ins Leben gerufen, die sich hierzulande sträflich vernachlässigten kleinen und großen Klassikern des phantastischen Kinos annehmen soll. Die Edition kategorisiert die Filme nach Entstehungsjahrzehnt. In die goldenen 1970er Jahre fällt die Veröffentlichung von WILLARD. Der Film von Daniel Mann war zur Entstehungszeit ein Überraschungserfolg und lief 1971 auch in den bundesdeutschen Kinos. Er ist die Adaption der Romanvorlage „Ratman’s Notebook“ von Stephen Gilbert. Produziert wurde WILLARD, wie auch der Nachfolger BEN (USA 1972), durch die Firma Bing Crosby Productions. Mit ihr realisierte der erfolgreiche Sänger und Schauspieler eigene Projekte, der Schwerpunkt lag hier auf Fernsehformaten wie THE BING CROSBY SHOW (USA 1964-1965) oder HOGAN’S HEROES (EIN KÄFIG VOLLER HELDEN / USA 1965-1971).
WILLARD kann als einer der Wegbereiter des so genannten Tierhorrorfilms gelten, einem Genre, das unter anderem durch Hitchcocks THE BIRDS (DIE VÖGEL / USA 1963) oder später Spielbergs JAWS (DER WEISSE HAI / USA 1975) einen mehr oder weniger festen Platz im Programm der Lichtspielhäuser einnahm. WILLARD gilt im Allgemeinen als „der Film mit den Ratten“, ihn allein darauf zu reduzieren würde ihm aber nicht gerecht werden. Wegweisende und nachhaltig verstörende phantastische Werke leben selten vorwiegend von ihren Schauwerten oder Schockeffekten. Ihren besonderen Reiz erhalten diese Arbeiten vielmehr meist durch zwei Eigenschaften. Erstens: Es gelingt dem Werk, ein spezielles gesellschaftliches oder psychologisches Problem zu thematisieren. Zweitens: Das Werk regt die Vorstellungskraft des Lesers oder Zuschauers an. Auf WILLARD trifft vor allen Dingen der erstgenannte Punkt zu. Der erfahrene Hollywoodregisseur Daniel Mann entwirft das Psychogramm eines jungen Mannes, der innerlich vereinsamt den bedrückenden Einflüssen seiner Umwelt ausgeliefert ist. Der von Bruce Davison gespielte Willard Stiles lebt mit Ende zwanzig noch immer im elterlichen Hause. Der Vater ist längst gestorben und seine egozentrische Mutter wirft ihrem Sohn permanent die Schmerzen vor, die sie während seiner Geburt erlitten hat. Das Leben des jungen Mannes dreht sich allein darum, seiner Mutter gehorsam zu folgen und ihren Launen ausgeliefert zu sein. Beruflich läuft es für ihn ebenfalls nicht erquicklich. Willard arbeitet in der Firma des verstorbenen Vaters, ist dort aber eher geduldet als akzeptiert. Die Geschäfte führt mittlerweile der kaltherzige Al Martin, der ihn am liebsten vor die Tür setzen würde. Da dies nicht möglich ist, erniedrigt er den Sohn des Firmengründers ebenfalls wo es nur geht…
Seine einzigen Freunde findet Willard ausgerechnet in einer Gruppe Ratten, der er entgegen der Weisung seiner herrischen Mutter nicht das Leben nehmen will. Er baut zu den Tieren, denen er Unterschlupf im Keller der Villa gewährt, eine Beziehung auf. Willards Favorit ist Sokrates, eine weiße Ratte. Ihr fühlt er sich nahe und weist deshalb die Liebesbezeugungen einer großen, schwarzen Ratte namens Ben zurück. Die Ereignisse geraten außer Kontrolle, als der brutale Al Martin Sokrates tötet…
Im Kern ist WILLARD eine verspätete Coming-of-Age-Geschichte, eine Fabel um einen jungen Mann, der es erst in fortgeschrittenem Alter schafft, sich von seiner Mutter und den männlichen Aggressoren aus seiner Umgebung zu lösen. Zu Frauen baut Willard keine engen Beziehungen auf, sondern ist abhängig von ihnen. Kurioserweise ist es gerade das Verhältnis zu den männlichen Ratten, durch das er aufblüht und sein inneres Wesen erkennt. Die freundschaftliche Beziehung zu Sokrates hat platonischen Charakter, während Ben tatsächlich so etwas wie animalische Liebesgefühle für Willard zu empfinden scheint. Wenn am Ende die Rattenschar zur geradezu biblischen Plage wird und Tod und Vernichtung verbreitet, wird aus dem düsteren Drama dann ein waschechter Horrorfilm.
Die Trickaufnahmen und Tierdressuren sind auch heute noch beeindruckend, auch die Darstellerleistungen des Filmes sind außergewöhnlich. Zu nennen ist hier zuerst Ernest Borgnine, der den destruktiven und machtausübenden Boss mit vor Kraft strotzender Verve gibt. Als Willards Mutter ist die Horrorikone Elsa Lanchester zu sehen, die durch James Whales BRIDE OF FRANKENSTEIN (FRANKENSTEINS BRAUT / USA 1935) unvergessen bleibt. Auch Bruce Davison gibt als feinfühliger Willard mit autistischen Zügen eine gelungene Darstellung. Filmmusikalisch ist WILLARD eine Entdeckung: die Musik stammt von Hollywoodveteran Alex North. North, der unter anderem für die Musiken zu A STREETCAR NAMED DESIRE (ENDSTATION SEHNSUCHT / USA 1951) und SPARTACUS (USA 1960) verantwortlich zeichnete, schuf für WILLARD eine Musik, die den US-amerikanischen Zeitgeist der frühen 1970er einfängt. Melodiös die Vorstadtidylle abbildend, aber mit bisweilen disharmonischen Brechungen, die in Abgründe blicken lassen…
Die Mediabook-Edition von Anolis Entertainment präsentiert den Film in hervorragendem Transfer, der Ton liegt in englischsprachigem Original und der wundervollen zeitgenössischen Kinosynchronisation vor. Der Audiokommentar mit Hauptdarsteller Bruce Davison gibt einen hervorragenden Einblick in die Produktionsmechanismen der Ära des Übergangs vom Old zum New Hollywood. Neben dem amerikanischen Trailer, Werberatschlägen und einer Bildergalerie findet sich auch die seltene deutsche Super-8-Fassung auf den Discs. Wie man aus einem Horrormelodram durch Kürzungen einen sechzehnminütigen harten Horrorfilm machen kann, wird hier eindrucksvoll bewiesen. Das Mediabook beinhaltet ein achtundzwanzigseitiges Booklet, das neben Bildmaterial unter anderem Texte von Ingo Strecker und David Renske enthält.
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Willard, USA 1971 | Regie: Daniel Mann | Darsteller: Bruce Davison, Elsa Lanchester, Ernest Borgnine, Sondra Locke, Michael Dante, Jody Gilbert u.a.
Anbieter: Anolis Entertainment