F. W. Murnau war Bildhauer. Einmal ließ er einen Baum mit einer Unzahl künstlicher Blätter bekleben. Detailversessen war er. Fritz Langs MÜDER TOD wirkte im Spiel Bernhard Goetzkes geradezu statuarisch. Langs Maschinenmaria-Robot aus METROPOLIS bewegte sich wie ein lebendig gewordenes Denkmal, das vom Sockel stieg. Der Regisseur hatte in Wien ursprünglich ein Studium als Bauingenieur begonnen. Carl Theodor Dreyer hatte sich 1949 in einem Kurzfilm an den klassizistischen dänischen Bildhauer Bertel Thorvaldsen angenähert. Das wäre Robert Sigls Zeit gewesen. In der Ära des stummen europäischen Films, in der jedes Bild zählte, wäre Robert ganz gewiss in seinem Element gewesen. Aber Sigl hat das Pech, zu spät geboren zu sein.
LAURIN, sein erster großer Spielfilm, ist in der Figur eines Kinder-, besser Knabenmörders, der leicht zu identifizieren ist und, von dem schweigsamen Mädchen Laurin entlarvt, zu Tode stürzt, auch eine Hommage an M. So aber kam er zur Welt, da wurde Langs erster Ton- und Sprechfilm M gerade in der Bundesrepublik wiederaufgeführt. Lang selbst hatte seine Karriere als Regisseur zwei Jahre zuvor in Berlin-Spandau endgültig beendet. Die Jungen, die Oberhausener, die ein paar Monate vor Roberts Geburt ihr Manifest unterzeichneten hatten, sahen kaum noch eine Verwendung für einen wie ihn. Robert war aber nicht der einzige, der seine Hand ausstreckte nach dem Werk der großen Alten, auch Werner Herzog tat es mit seinem NOSFERATU-Remake. Dennoch war diese Periode verschüttet in den Bombentrichtern des Dritten Reiches.
Jede Szene in Robert Sigls erstem großen Spielfilm LAURIN ähnelt einem verwunschenen, in deutsche Moritaten- und Märchentradition gewobenen Kreuzweg. Es ist ein Film, den man nicht müde vor dem Schlafengehen sehen sollte, sondern der dem Zuschauer abverlangt, hellwach zu sein. Es ist ein langsamer Film, für den man sich Zeit nehmen muss. Robert Sigl ist, man merkt es, verliebt in die Bedeutung jedes einzelnen Bildes, das er minutiös entworfen hat. Er hatte einen erstklassigen ungarischen Kameramann und Lichtgestalter, Jancsó Miklós, an seiner Seite, der zehn Jahre älter war. Viele Bilder sehen aus, als hätte sie Mario Bava für OPERAZIONE PAURA vorgesehen. Zu Sigls Vorbildern gehören erklärtermaßen auch Filme wie THE INNOCENTS (nach Henry James) und DON’T LOOK NOW. Wie letzterer ist der Film ein veritables Trauerspiel, kein ordinärer Horrorfilm.
Sigls Film ist, vermutlich der Kosten wegen, nicht nur mit einem ungarischen Kameramann entstanden, sondern komplett in Ungarn gedreht, 1988, im Jahr, als dort Reisefreiheit ins westliche Ausland gewährt wurde, einschließlich Friedhof und gelegentlichem, mit Filmlicht erzeugtem Gewitter, mit magyarischen Darstellern und überwiegend magyarischem Team. Ich musste allerdings nachlesen, dass das Projekt laut Drehbuch an der norddeutschen Küste spielen und eine Atmosphäre erzeugen sollte, die Theodor Storms düsteren Schimmelreiter suggeriert. So etwas wie der „Fliegende Holländer“ war natürlich nicht möglich in Ungarn. Sehr gut die Besetzung des Mädchens Laurin, gespielt von Dóra Szinetár. Dóra hat danach hauptsächlich Fernsehen gemacht – wie Robert Sigl auch. Der hat sogar für AKTENZEICHEN XY gearbeitet, der einzig echten Horrorserie des ZDF, mit richtig gruseligen Kabinettstückchen. Und drei Episoden GEISTERJÄGER JOHN SINCLAIR. Und TATORT nicht zu vergessen. Murnau und Lang kannten kein Genre. Niemand würde es wagen, Murnau als Horrorfilm-Regisseur zu klassifizieren, aber ab den 1980er-Jahren ging dieser unglückliche Begriff um wie ein Gespenst und engte Regisseure ein, die bewiesen hatten, dass sie das Zeug für mehr haben. Vielleicht ist jetzt die Zeit für Robert Sigl gekommen, der gezeigt hat, dass er mit kleinstem Etat etwas Besonderes erschaffen kann, wie ein Edgar Ulmer. Er hat mehrere heiße Eisen im Feuer. Seine aktuellen Projekte GOLGATHA, LAZARUS, MEDUSA, THE SPIDER oder WURDILAK klingen vielversprechend.
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Laurin | Deutschland/Ungarn 1989 | Regie: Robert Sigl | Darsteller: Dóra Szinetár, Brigitte Karner, Károly Eperjes, Hédi Temessy, Barnabás Tóth, Katalin Sir, Zoltán Gera u.a.
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