Augen zu und durch.

Nach weltweiten Berichten von Massenselbstmorden im Fernsehen bricht die Epidemie nun auch in den USA aus, gerade als die schwangere Malorie (Sandra Bullock) mit ihrer Schwester aus einer Vorsorgeuntersuchung das Spital verlässt. Kranke rennen gegen Glasscheiben, um zu sterben, Autos crashen gegeneinander und auch Malories Schwester lässt sich absichtlich von einem Lastwagen überfahren. Schnell wird die Überlebensregel eingeführt: Es gibt ein großes, unheimliches Etwas – und wehe dir!, tritt keinesfalls zu diesem Etwas in Blickkontakt.

Bird Box_Poster Malorie schafft die Flucht in ein Haus in der Nähe und wird die folgende Zeit in abgedunkelten Zimmern verbringen, zusammen mit einer illustren Zwangsgemeinschaft. Der Supermarktangestellte Charlie (Lil Rel Howery), der ein Buch schreiben will, der zynische Douglas (John Malkovich), dessen dritte Ehefrau beim Versuch starb, Malorie zu retten, Hausbesitzer Greg, die ältere Dame Sheryl, Drogendealer Felix (Machine Gun Kelly), Polizeilernende Lucy, Kriegsveteran Tom. Es folgen Abgänge und Zugänge, das übliche Psychospiel-Prozedere. So weit so bekannt.

Doch BIRD BOX leistet plötzlich mehr, ist nicht grundlos nach ROMA gleich der zweite große Filmerfolg von Netflix. Was BIRD BOX dramaturgisch über die üblichen klaustrophobischen Epidemiefilme hebt, ist die Parallelmontage zu einer späteren Zeit. Wir sehen Malorie, wie sie sich selbst und zwei Kindern Augenbinden anzieht und mit zwei Vögeln in einem Käfig, der Bird Box, ein Haus verlässt, und sich auf einem Ruderboot blind einen Fluss hinunter treiben lässt. Diese Story handelt 5 Jahre nach dem Drama im Haus, doch was ist dazwischen geschehen? Was ist mit den anderen Menschen geschehen? Und: Was wird noch alles geschehen?

Bird Box_1 Oscargewinnerin Susanne Bier (IN EINER BESSEREN WELT) legt mit BIRD BOX einen Horrorfilm vor, der nicht nur dramaturgisch clever daherkommt und immer wieder mit Schreckmomenten und Überraschungen aufwartet, sondern auch einen Horrorfilm, der die klassische freudsche Kastrationsangst als gesamtgesellschaftliches Phänomen abhandelt (Erblinden ruft nach Freud klassische Kastrationsvorstellungen hervor). Die Angst dieser Epidemie, die man nicht ansehen darf, ist eine Angst vor Kastration vor dem Gesellschaftssystem. Als Ausgeliefertsein vor der Macht, bzw. vor dem, was im Verlauf des Films „Dämonen“ genannt wird. Rechtschaffene Überlebende wie Malorie müssen sich mit der Augenbinde vorübergehend selbst „kastrieren“ und so das Leben zubringen. Dass da plötzlich ein ferner, utopischer Fluchtort zum Thema wird, unterstreicht die Machtlosigkeit vor den Dämonen – die ihrerseits durch ihre Nicht-Sichtbarkeit eine abstrakte Größe repräsentieren können wie „Die Macht“ oder „Die da oben“.

Bird Box_4 Lediglich unter psychisch kranken Menschen (die aussehen und handeln wie selbstherrlicher White Trash) gibt es einige, die dem Dämonischen ins Angesicht blicken können und mordend durch die Lande ziehen. Sie sind jetzt die Herren des Landes, kleine postapokalyptische Tribes, mit der Botschaft: „Seht!“ Denn „es wird die Welt reinigen“.
So wie schon George Romeros Zombiefilme oder CRAZIES sich rund um die Ängste als Reflexion einer gesellschaftlichen Situation auseinandersetzten, so darf Susanne Biers Horrorfilm bewusst als Analyse um den aktuell fragilen Zustand der Demokratie gesehen werden. Es gibt die (Selbst-) Kastrierten und die Sehenden – und die dämonische zerstörerische Macht. Wenn Malorie in dieser Situation zwei Kinder aufzieht und diesen lediglich die Namen „Mädchen“ und „Junge“ gibt, dann wird auch klar, dass wir uns auf dem Ruderboot auch auf einer kleinen Arche befinden, dem Versuch, den Lauf der Gesellschaft irgendwann wieder mit besseren (Urtypen von) Menschen zu verändern.

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Bird Box | USA 2018 | Regie: Susanne Bier | Drehbuch: Eric Heisserer | Kamera: Salvatore Totino | Musik: Trent Reznor, Atticus Ross | Darsteller: Sandra Bullock, John Malkovich, Sarah Paulson, Trevante Rhodes, Machine Gun Kelly, Lil Rel Howery | 124 min.