Wer mit der Fähre von Finnland nach Schweden kommt, muss durch einen Tunnel gehen, vorbei an der Zollstation. Dort ist der Arbeitsplatz von Tina, eine ruhige, gewissenhafte Beamtin, die die Passagiere mit seltsamen Blicken mustert. Die Frau mit der schwulstigen Stirn, der fleckigen Haut und dem kurzen, struppigen Haar kann deren Gefühle riechen: Ein für andere nicht wahrnehmbares Bouquet aus Scham, Aufregung, Angst erzählt ihr mehr über die gut versteckten Geheimnisse im Gepäck als der beste Röntgenapparat. Sie bringt den Zoll auf die Spur eines Pornoringes. Privat ist Tina aufgrund ihres Äußeren einsam und hat mehr Freunde unter den Tieren des Waldes, in dem ihr Haus steht, als unter Menschen.
Im Algorhythmus von „Youtube“ wird der Trailer des schwedischen Oscar-Kandidaten BORDER als Monster-Film klassifiziert. Wie so viele Netz-Rankings missversteht das den Kern der Geschichte gründlich, denn Tina ist nicht Beowulf. Die Frau mit der Chromosomen-Abweichung ist Grenzbeamtin, und die Grenze, die sie schützt, ist eine nationale, aber auch eine andere, kulturelle Grenze.
Eines Tages kommt da durch die Röhre dieser seltsame Mann, der ihr ähnlich sieht und ein Geheimnis mit ihr zu teilen scheint. Er behauptet, ihre wahre Identität zu kennen. Der Fremde führt sie ein in eine Welt, die sie zugleich fasziniert und schockiert, eine Welt jenseits der Werte, mit denen sie aufgewachsen ist. Und weil der neue Freund so grundlegend anders mit der sozialen Matrix umgeht als sie, muss Tina eine Entscheidung treffen, die ihr ganzes Leben in Frage stellt.
Der Film konfrontiert mit hoch aktuellen Fragen. Die vielleicht zentralste ist, wie wir das Fremde sehen und mit ihm umgehen, und auch, wie das Fremde uns sieht, wie sich also Differenz aushalten und ausleben lässt. Darauf gibt es keine leichten Antworten, und der Film macht auch nicht den Fehler, sie liefern zu wollen. Durch den Kunstgriff, dass er die Perspektive der anderen Seite einnimmt, erzeugt er beim Zuschauer eine tiefe, irritierende Erschütterung. Eine Sexszene der beiden „Mutanten“ ist so archaisch, entfesselt und seltsam, dass es Stoizismus braucht, sie zu ertragen. Im letzten Drittel gleitet die Geschichte ab in einen künstlich konstruierten Strudel wilder Verstrickungen, so wie der fremde Freund abgleitet in das winterliche Eiswasser unter dem Fähranleger und das gegen alle Logik überlebt.
Die Figur der Tina rettet die Geschichte als Fels in der Brandung. Das ist die eigentliche Überraschung und die Konstante der Geschichte: Eine tief komplexe, interessante und schwierige Figur, die sich selbst treu bleibt noch im Verrat, perfekt verkörpert von Eva Melander, die für die Rolle 18 Kilogramm zugenommen hat und vor jedem Dreh Stunden in der Maske verbringen musste. Sie schafft es, uns dem Fremdartigen anzunähern, ohne ihm seine Andersartigkeit zu nehmen.
Trotzdem, oder auch darum, standen viele Zuschauer nach der Nacht-Vorführung von THE BORDER bei den Nordischen Filmtagen schweigend und ratlos unter den Lübecker Gaslaternen im Regen. Eine Romanze über eine Grenzbeamtin hatten sie sich anders vorgestellt. Gesehen haben sie einen Film, der im besten, aber auch im wahrsten Sinne seltsam ist – und der eine mentale Vorbereitung braucht, weil es ein Film ist, auf den man sich einlassen muss. Was er mit jeder Begegnung mit etwas wirklich Fremdem gemeinsam hat.
BORDER startet in Deutschland am 11. April 2019.
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Border, Schweden/Dänemark 2018 | Regie: Ali Abbasi | Drehbuch: Isabella Ecklöff, Ali Abassi, John Ajvide Lindqvist | Kamera: Nadim Carlsen | Darsteller: Eva Melander, Eero Milonoff, Jörgen Thorsson, Victor Åkerblom, Matti Boustedt | Laufzeit: 101 Min.