Von Hitch und Truffaut
Im Jahr 1962 war es, da zog sich Alfred Hitchcock eine Woche lang mit François Truffaut und einer Übersetzerin zurück, um ein Interview für ein Buch zu führen, das Hitchcock selbst veränderte (fortan war er nicht nur sehr bekannt, sondern auch als Filmkünstler geachtet) und die Sicht auf amerikanische Studiofilme sowieso.
In den 1950er-Jahren hatten die Franzosen, André Bazin und die „Jungtürken“ von den Cahiers du cinéma, Rivette, Godard, Truffaut usf., auch das Genre entdeckt: Auf einmal galten Nicholas Ray, Irving Lerner, Jerry Lewis als gefeierte – hm! – auteurs. Truffaut schrieb zum Beispiel, wer Hawks und Ray ablehne, dem würde er zurufen: Hör auf, ins Kino zu gehen, schau dir keine Filme mehr an, weil du die Bedeutung eines Einzelbildes, einer Kameraeinstellung, einer Idee, eines Films oder des Kinos nie verstehen wirst.
1962 erschien in Frankreich sogar eine eigene, ausschließlich dem phantastischen Film gewidmete Zeitschrift: Midi Minuit Fantastique. Ende der 1960er-Jahre fand man auch in der Zeitschrift Film mit einem Mal einen dreiteiligen Beitrag von Franz Schöler über den Horrorfilm: Die Erben des Marquis de Sade, samt Filmografie, und Helmut Färber erwähnte in der Filmkritik Tod Browning und Freaks, Wolf-Eckart Bühler erwärmte sich für den Western bis hinunter zu Kleindarsteller Hank Worden. Einen Beitrag geleistet hatten sicher auch die Western- und Gangsterfilm-Editionen des Duisburger Atlas Filmverleihs. Die Sonne ging für deutsche Cineasten auf, als Sam Fuller nach Köln kam, um 1972 mit seiner leicht unbegabten Frau Christa Lang einen 16mm-Tatort für den WDR in Köln zu drehen: Tote Taube in der Beethovenstraße.
Ende der 1960er-Jahre erfanden deutsche Filmverleiher sogar spezielle Icons und platzierten sie auf Plakaten: Wildwestfilme, Grusel, Sex. Für uns gab es damals aber keine Genrefilme: Der Kinobesuch hing vom Namen der Stars ab, die bestimmte Filme durch ihre Mitwirkung auszeichneten, etwa die John-Wayne- und die Marilyn-Monroe-Filme. Oder es waren Wellen angesagt, die mehr oder weniger gut über mehrere Jahre liefen: Tarzan, Kriegsfilme, Raketen- und Weltraumfilme, Edgar Wallace, Karl May, Hammer, Frankenstein und Godzilla, Oswalt Kolle, Schulmädchen, Graf Porno. Es ging abwärts. Viele dieser Filmwellen hatten keine richtig großen Stars in der Besetzung, allenfalls Fuchsberger, Drache oder Pierre Brice. Es waren schlicht und einfach Exploitation-Filme, immer häufiger mit reißerischen Titeln und provokativen Sujets.
Hitch wird Doktor
Das schreckliche Geheimnis des Dr. Hichcock, der in dem Jahr entstand, als Truffaut Hitchcock interviewte, ist so ein Exploitation-Film, der allenfalls durch geringe Produktionswerte auffiel, in Deutschland schon gar nicht, denn hier kam er erst gar nicht in die Kinos und hätte vermutlich in einem Kleinverleih auch nicht viel eingespielt. Dr. Hichcock, gewiss doch eine Anspielung auf den beispiellosen Kassenerfolg von PSYCHO, ist als Gothic-Doktor wenigstens indirekt ein Vorläufer von Jack the Ripper – und außerdem ist er (that’s exploitation!) – nekrophil. Wenn das nichts ist. Das war damals ein ganz neues Film-Sujet. In THE MOST DANGEROUS GAME, dem RKO-Film von 1932, wurde das Motiv nur ganz vorsichtig angedeutet, wenn Graf Zaroff postulierte: Erst töten – dann lieben! Im Schrecklichen Geheimnis stellte es der Regisseur, Riccardo Freda, in den Mittelpunkt. Fredas Filmkarriere hatte im faschistischen Italien begonnen. Zuerst als Autor, ab 1942 auch als Regisseur tummelte er sich in allen möglichen „Genres“. Da waren Sandalenfilme um Maciste – Agentenfilme – Italowestern. Vor allem aber hatte Freda mit Kameramann Mario Bava 1956, also noch vor Hammers Dracula-Filmen, ein Blutsauger-Drama gedreht: I VAMPIRI (DER VAMPIR VON NOTRE DAME).
Bava gilt heute zu Recht als Klassiker, spätestens seit 1960, als er LA MASCERA DEL DEMONIO drehte, der 1961 in Schwarzweiß auch über uns deutsche Kinogänger hereinbrach unter dem leichter verständlichen Titel Die Stunde, wenn Dracula kommt. Barbara Steele spielte die Hauptrolle, und des Erfolges wegen wurde sie von Freda auch für seinen Hichcock verpflichtet, in der Rolle der zweiten Frau des Dr. Hichcock, die ihr Blut geben soll für die tot geglaubte, aber noch lebendige erste Ehefrau.
Barbara Steele und Dr. Freda, der Spieler
In einem Interview mit Video Watchdog (#7, September/Oktober 1991) erfuhren wir von Barbara Steele, dass der Film angeblich das Produkt einer 10.000-Dollar-Wette zwischen Freda und zwei seiner Freunde gewesen sei. Diese waren der Ansicht, dass es ihm nicht gelingen würde, binnen einer Woche ein Skript zu schreiben und zu finanzieren. Angeblich schrieb er das Drehbuch in zwei Tagen! O-Ton Steele: “He was an incredible gambler, Freda. That’s really all he cared about.” Das ist schön erzählt, aber nicht wahr. Denn nicht Freda hat das Drehbuch geschrieben, sondern Ernesto Gastaldi, damals 28, der im Auftrag von Fredas Producer Luigi Carpentieri an einer Giallo-Story mit dem Arbeitstitel Spectro arbeitete. Gastaldi hatte zwei Jahre zuvor das Drehbuch für einen anderen italienischen Horrorfilm geschrieben: DIE GELIEBTE DES VAMPIRS (L’AMANTE DEL VAMPIRO). Gastaldis Treatment trug den neuen Titel “Raptus”. Ursprünglich sei Nekrophilie in der Geschichte gar nicht vorgekommen, verrät Gastaldi. Es wurde erst im Verlauf der Vorbereitungen eingefügt. Von wem die Idee stammt, ist nicht ganz klar. Als Gastaldi Freda zum ersten Mal traf, sprachen sie nicht über das Drehbuch und schon gar nicht über Nekrophilie, sondern sehr profan über Fußball, Politik und das Wetter. Für Freda ging es zuerst mal ums Geld. Non olet! antwortete Burgschauspieler Theo Lingen auf die Frage, warum er auf der Leinwand immer in so seltsamen Schwänken zu sehen war.
Das sind so die Realitäten, unter denen heutige „Kultfilme“ entstanden. Gedreht wurde übrigens nicht in der von Mussolini errichteten Cinecittà, sondern in einem echten Gemäuer: der Villa Perucchetti in Rom, die inzwischen die bulgarische Botschaft beherbergt. Barbara Steele: „Wir arbeiteten 18 Stunden am Tag, dank großer Mengen Sambuca und Kaffee. Wenn mal ein Dolly zu Bruch ging, ließ Freda die Kamera einfach auf einem Teppich ziehen. Nichts konnte diesen Mann aufhalten. Er war hartnäckig, emotional, grausam, von einer leidenschaftlichen Energie getrieben und darüber hinaus eben auch ein unsterblicher Spieler.“
Trotz der kurzen Drehzeit von drei Wochen und dem geringen Budget von 96 Millionen Lire arbeitete Freda nicht überstürzt. Alles wurde bis ins kleinste Detail geplant, so dass Freda 50 bis 60 Einstellungen pro Tag schaffte. Auch Gastaldi besuchte die Dreharbeiten: Das erste Mal bat ihn der Regisseur, des Drehplans wegen, zehn Seiten streichen zu dürfen. Gestrichen wurden ausgerechnet die Szenen, die die Motive der Protagonisten erklärten: „Das zweite Mal, als ich in die Villa kam, sprach ich gar nicht erst mit Freda, so vertieft war er in seine Arbeit. Er arbeitete mit drei Kameras gleichzeitig – aber er nahm nicht die gleiche Szene aus verschiedenen Perspektiven auf, sondern drei verschiedene Szenen gleichzeitig!“ So etwas hat nur noch Jess Franco fertiggebracht. Möglicherweise ist aber auch diese Erinnerung poetisch übertrieben. Glaubwürdiger klingt, was Kameraassistent Giuseppe Maccari zu erzählen hat: „Wir hatten zwei Kameras. Mit der einen arbeiteten wir, während mit der anderen die nächste Aufnahme vorbereitet wurde. Die Villa hatte drei Stockwerke sowie einen Keller. Freda schickte eine Kamera mit einer kleinen Gruppe in den Keller – dem Regieassistenten und einigen Stand-ins -, um die nächste Szene vorzubereiten, während er oben mit den Darstellern arbeitete. Wenn er fertig war, raste er runter und drehte die nächste Szene.“ Mehrere Kameras wurden offenbar nur in einigen wenigen Einstellungen eingesetzt.
Riccardo Freda, Auteur!
In dem für meine älteren Augen nur mit Lesebrille unter zusätzlicher Zuhilfenahme einer Lupe zu lesenden Booklet (kleine weiße Schrift engzeilig auf schwarzem Untergrund) – daher leider kein Lesevergnügen – schreitet Christopher Klaese zur Ehrenrettung des unglaublich geheimnisvollen Spielers Freda, der zuerst von französischen Kultisten in den Auteur-Stand erhoben wurde: L’ORRIBILIE SEGRETO DES DR. HICHCOCK sei ein „Klassiker des italienischen Gothic-Horror, ein Meisterwerk an farbenfrohem Schauermärchen, mit pittoreskem Charme und schwüler Dramatik, grandiosen Schockmomenten und klassischem Gruselthrill“. Das hätte Wolfram Schütte vor 30 Jahren nicht besser formulieren können: Klassiker – Meisterwerk – farbenfroh – pittoresker Charme – schwüle Dramatik – kurz: grandios und (man kann es nicht oft genug wiederholen) klassisch, klassisch, klassisch. Wahrscheinlich werde ich diesen Klaese-Käse im Traum nachbeten.
In der Featurette des Bonusmaterials erfahren wir viel Wissenswertes, zum Beispiel, dass Schicksal häufig auch mit Frauen zu tun hat und mit Tod. Die deutsche Synchronisation ist, was wir labour of love nennen dürfen. Bodo Traber hat sie realisiert. Und Lars Dreyer-Winkelmann bemüht sich um einen kenntnisreich flüssigen Audiokommentar.
Warum, frage ich, setzen sich gebildete Menschen für so etwas ein? „Irgendwie sind wir doch alle ein wenig verrückt“, erklärte mir ein „genre“affiner Freund, der auch als Anwalt tätig ist und sich in solchen Sachen auskennt. Er meinte das liebenswert. Vampira alias Maila Nurmi brachte es, auf Ed Wood angesprochen, auf die weniger freundliche Formel: Because everyboy is brain-damaged today.
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L’orribile segreto del Dr. Hichcock | Italien 1962 | Regie: Riccardo Freda | Darsteller: Barbara Steele, Robert Flemyng, Harriet Medin, Silvano Tranquilli, Maria Teresa Vianello, Al Christianson u.a.
Anbieter: Ostalgica