Auf die Frage, was den Zerfall eines diktatorischen Staates auslösen könne, meinte „The Handmaid’s Tale“-Autorin Margaret Atwood kürzlich in der Sonntagsausgabe der Neuen Zürcher Zeitung: „Whistlerblower.“ Tatsächlich spielt auch in der Entwicklung heutiger Gesellschaften Whistleblowing eine immer bedeutendere Rolle. Während Erdogan bereits alle möglichen Menschen einsperrt, die irgendwie Opposition machen könnten und damit dem Whistleblowing vorbeugt, so gut es geht, ist der Regierungsstab von Trump durchlässig wie ein Sieb. Die US-Medien werden oft täglich mit geheimen Informationen aus dem Inneren der Macht beliefert. An Edward Snowden und Julian Assange zeigt sich die Gnadenlosigkeit der US-Regierung, die zu Höchststrafen des Freiheitsentzugs bereit ist (und dabei ist Julian Assange nicht einmal ein Whistleblower im eigentlichen Sinn, sondern müsste von den USA eigentlich als investigativer Journalist anerkannt werden).
Doch auch andere Länder haben ihre zum Teil dramatischen Whistleblower-Stories, in diesem Fall Großbritannien vor dem zweiten Golfkrieg. Der schön klare Titel OFFICIAL SECRETS bezieht sich dabei auf den „Official Secrets Act“, der u.a. Geheimdienstmitarbeitenden während und nach ihrer Anstellung untersagt, Sabotage oder Spionage zu betreiben, oder eben: Geheimnisse preis zu geben. Katherine Gun (Keira Knightley) hat das 2003 getan. Als Übersetzerin des britischen Geheimdienstes GCHQ sieht sie eine streng vertrauliche E-Mail der NSA: Damit die USA vor der UN eine Stimmenmehrheit für den Krieg gegen Saddam Husseins Irak erhalten, sollen Mitglieder des Sicherheitsrates erpresst werden. Sie gelangt über eine Freundin der Friedensbewegung schließlich zum Journalisten Martin Bright (Matt Smith) des liberalen „Observer“. Vieles bleibt erst einmal in der Schwebe und sorgt nach klassischer Dramaturgie für Spannung. Wird Katherine Gun entdeckt? Wagt es der „Observer“, das skandalöse Memo zu veröffentlichen? Werden die Medien weltweit darauf anspringen?
Dabei spielt der Film nicht mit übermäßigem Pathos, sondern verlässt sich auf eine schnelle, fast dokumentarische Erzählperspektive. Glaubwürdig und durchaus mit etwas britischem Understatement – sichtbar nicht nur an Knightleys Blässe (ohne Schminke und Kostüm), sondern auch am von Ralph Fiennes liebevoll unglamourös gespielten Anwalt Ben Emmerson. Und wer den Fall Katherine Gun nicht kennt, wird vom Ende des Films überrascht. Und das, obwohl das Ende des Films keine so große Relevanz hat. Wir wissen ja: Der Krieg hat stattgefunden, diese kleine Episode hat die USA und auch Großbritannien nicht daran gehindert, im Irak einzumarschieren. Die Spannung entsteht viel mehr durch den ungleichen Kampf der kleinen Katherine Gun (Keira Knightley spielt umwerfend) gegen den großen Machtapparat. Die Einzelne gegen das System: Es zeigt sich in OFFICIAL SECRETS, wie wichtig eine funktionierende Zivilgesellschaft ist mit einigermaßen fairen, freien Richtern, und vor allem unterstützenden Oppositionellen – von der Friedensbewegten über die Presse bis hin zur auf Zivilrecht spezialisierten Anwaltsgemeinschaft. Das gibt Gun die nötige Kraft, nicht einfach das Handtuch zu werfen, ändert aber natürlich nichts daran, dass sie emotionale Berg- und Talfahrten durchmacht. Nach der eher impulsiven Weitergabe der E-Mail lebt sie phasenweise in totaler Verunsicherung. Bis sie sich dazu durchringen kann, aufs Ganze zu gehen.
Bereits in RENDITION (2007) und EYE IN THE SKY (2015) hatte sich der südafrikanische Regisseur Gavin Hood mit dem Verhältnis des Individuums zu den streitbaren Notwendigkeiten von Regierungen auseinandergesetzt. Doch während es in EYE IN THE SKY noch um Kriegsszenarien in fernen Ländern geht (ein Drohnenabschuss), setzt OFFICIAL SECRETS etwas früher an: In unseren Breitengraden.
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Official Secrets | USA/UK 2019 | Regie: Gavin Hood | Darsteller: Keira Knightley, Matt Smith, Ralph Fiennes, Adam Bakri, Matthew Goode, Indira Varma u.a. | Laufzeit: 112 min.
Der Film lief am ZFF 2019.