Bei der transorbitalen Lobotomie wird dem Patient ein Stahlmeißel im Bereich der Augenhöhle ins Gehirn getrieben, um durch Zerschneiden des Nervengewebes eine Linderung der psychischen Auffälligkeiten zu bewirken. Schon wegen der garstigen Prozedur ist diese oft nur unter lokaler Betäubung durchgeführte Operation ein beliebtes Motiv in Horrorfilmen, in welchen Krankenhäuser und psychiatrische Einrichtungen der 40er und 50er Jahre mit ihrer oft romantisierenden wie bedrückenden Patina für angenehme Schauer sorgen. Man denke nur an Carpenters THE WARD, Verbinskis A CURE FOR WELLNESS oder Brad Andersons SESSION 9.
Wer Rick Alversons frühere Filme wie THE COMEDY (2012) und ENTERTAINMENT (2014) kennt, erahnt indes schon, dass jegliche Romantisierung das Letzte ist, was der 1971 geborene Musiker und Regisseur im Sinn hat, wenn er sich den Ereignissen in amerikanischen psychiatrischen Kliniken der 50er Jahre zuwendet. Und um Horror handelt es sich auch eher nur auf abstrakte Art, so wie schon THE COMEDY als auch ENTERTAINMENT nichts mit Komödie zu tun hatten. Die Bilder sind ihrer intensiven Farben beraubt. Der Stil ist nüchtern, dokumentarisch, teilnahmslos – der kalte, interessierte Blick eines Forschers durch eine Lupe. Und darunter liegt ein Mikrokosmos aus Kliniken und Krankenhäusern Amerikas – mit ihm die Psyche der amerikanischen Gesellschaft.
THE MOUNTAIN ist in seiner Sektion der amerikanischen Gesellschaft das US-Pendant zu Hanekes DAS WEISSE BAND, auch wenn hier am Ende nicht Faschismus, sondern Kriege und endlich auch die Flower Power Ära stehen. Der Film liefert mit seiner Kryptographie einer Denkweise aber auch einen Kommentar zur aktuellen Situation, und das ist durchaus politisch zu verstehen – so als würde Alverson bewusst die Zeit bebildern, in der „America great“ war. Dafür sprechen auch immer wieder aktuelle Bezüge, die sich in das Bebilderte einschleichen. Mit dem Charakter Fiennes und der Situation in den psychiatrischen Kliniken jener Jahre seziert Alverson den sozialen Trend, mit guten Absichten voranzuschreiten, dabei jedoch die Konsequenzen des Handelns konsequent auszublenden. So wurden traumatisierte Kriegsveteranen Mitte des letzten Jahrhunderts wie alle anderen an der Gesellschaft Zerbrochenen einfach nur weggesperrt und damit aus dem nationalen Bewusstsein ausgeblendet, was jede kritische Diskussion vermied. Auch Fiennes verfolgt, so wohlmeinend er auch sein mag, konsequent und stoisch seinen barbarischen Weg.
Es war wieder mal ein kalter Tag in Rotterdam, als THE MOUNTAIN gezeigt wurde, doch nach Alversons eiskaltem Alptraum wirkte er wie Sommer.
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The Mountain, USA 2018 | Regie: Rick Alverson | Drehbuch: Rick Alverson, Dustin Guy Defa, Colm O’Leary | Kamera: Lorenzo Hagerman | Musik: Robert Donne | Darsteller: Tye Sheridan, Jeff Goldblum, Hannah Gross, Denis Lavant, Udo Kier, Annemarie Lawless u.a. | Laufzeit: 106 min.