Zwei Filme, die jedem Filmfreund bekannt sein dürften, die jeder schon mal gesehen hat, die lange zum Standard-Repertoire der Kinos gehörten: DAS VERLORENE WOCHENENDE (THE LOST WEEKEND), eine Paramount-Produktion aus dem Jahr 1945, und KÜSS MICH, DUMMKOPF (KISS ME, STUPID) aus dem Jahr 1964, die erste ein Alkoholikerdrama, die zweite eine Komödie der Mirisch-Brüder, die für den Verleih von United Artists produzierten, zwei Filme aus einer Ära, die Ende der 1960er-Jahre vorbei war, die eine noch zu Hochzeiten der Studiozeit, die andere, als das klassische Hollywood-System zu Ende ging. Beide haben denselben Regisseur: Billy Wilder, einen Namen, den jeder Filmfreund schon einmal gehört haben dürfte. Billy hätte wahrscheinlich viele tolle Filme in Deutschland gemacht – 1930 war er beteiligt an MENSCHEN AM SONNTAG, 1931 an EMIL UND DIE DETEKTIVE, wenn, ja, wenn Billy (damals: Billie) nicht Samuel geheißen hätte und als Sohn jüdischer Eltern in Galizien zur Welt gekommen wäre. 1933, als bei der Ufa schon der sogenannte deutsche Gruß galt, entkam er den Nazis und ging nach Paris. Der große Joe May, der in Kalifornien leider ganz klein wurde und dessen Schicksal Friedrich Hollaender den unbedingt lesenswerten Roman MENSCHLICHES TREIBGUT widmete, verhalf ihm zu einem Besuchervisum in die Vereinigten Staaten. Er begann bei Paramount und MGM für Lubitsch zu schreiben, u.a. NINOTSCHKA, den selbst Hitler sehr mochte, weil die von ihm so verehrte Greta Garbo darin die Hauptrolle spielte, und ab 1942 erhielt er die Chance, in den Paramount-Studios Regie zu führen und einer der ganz Großen seines Fachs zu werden. Er drehte mit Marlene Dietrich, Marilyn Monroe, Erich von Stroheim, Charles Laughton, Tyrone Power, Tony Curtis, Jack Lemmon, James Stewart, James Cagney, Kirk Douglas, William Holden und der von den Toten wiederauferstandenen Stummfilm-Legende Gloria Swanson. Ray Milland ist der Trinker, ein erfolgloser Schriftsteller, im VERLORENEN WOCHENENDE, der auf dem autobiografischen Buch eines Alkoholikers basierte, das 1944 auf den Bestsellerlisten stand. Die ungeheure schauspielerische Leistung von Milland und die Film-Noir-Atmosphäre, die der DOP, John F. Seitz, schuf, das alles bereitete Paramount Kopfzerbrechen, aber der Film passte voll in die Nachkriegszeit und wurde im Dezember 1945 vom Publikum angenommen. Nie werde ich jene Szene vergessen, in der Milland die Flasche in der Deckenlampe versteckt findet.
KÜSS MICH, DUMMKOPF hat genau das jüdische Augenzwinkern, das uns abhandenkam, als 1933 die Weichen des Humors in Deutschland umgestellt wurden. Selbst der Neue Deutsche Film hat sich, was den Humor angeht, nicht von den Nazis erholt. Jack Lemmon spielt einen Lehrer aus der Provinz, der mit seinem Freund Songs schreibt, die er an den richtigen Sänger zu bringen hofft. Der Zufall fügt es, dass Dino Crocetti (alias Dean Martin) in seinem Kaff Station macht, aber Dino interessiert sich nicht für die Lieder, sondern für die Frau von Peter Sellers, die von Kim Novak gespielt wird. Einen Augenblick mal, wer spielt denn nun den Schulmeister: Lemmon oder Sellers? Weder – noch, der eine, Wilders Lieblingsschauspieler Lemmon, musste wegen anderer Verpflichtungen absagen, der andere, Sellers, erlitt mitten in den Dreharbeiten einen Herzinfarkt und wurde kurzfristig durch „meinen Onkel vom Mars“ Ray Walston ersetzt.
Als ihn die neue Zeit überrollte wie damals die Nazis, da hat Wilder dann kaum mehr Vernünftiges gemacht: einen Film in Deutschland (FEDORA mit Hildegard Knef) oder BUDDY BUDDY, ein Remake des besseren französischen Originals DIE FILZLAUS.
Aber wenn ich meine, wir alle sollten Wilders Filme kennen, dann habe ich meine Zweifel. Vor kurzem schrieb mir ein Jungverleger von Books on Demand, ich solle, falls ich überhaupt noch ein weiteres Filmbuch machen wolle, auf keinen Fall Filme behandeln, die vor 1990 gedreht wurden. Auf keinen Fall also etwas, das den jüdischen Filmemigranten aus Nazideutschland Respekt zollt. Das interessiert doch keine Sau. Billy Who? Offensichtlich leben wir in einer Zeitenwende, einer Periode der Entgeschichtlichung, in der sich selbst ein Ex-Reality-Star wie Donald T. zum größten amerikanischen Präsidenten aller Zeiten erklären kann – weil sich niemand mehr an die besseren erinnert. Wahrscheinlich hätte Billy Wilder diese Nummer für eine Komödie benutzt, wäre er noch unter uns. Das Langzeitgedächtnis besonders der Amerikaner hat endgültig ausgesetzt.
Umso wunderbarer ist es, dass einige Labels immer noch den Mut aufbringen, diese großartigen Filme vor 1990 herauszubringen. Da pfeife ich gern auf AVATAR und den ganzen Zirkus und sehe lieber zum wiederholten Mal DAS VERLORENE WOCHENENDE oder KÜSS MICH, DUMMKOPF.
Erschienen sind beide Filme jetzt in hervorragenden Blu-ray- und DVD Auflagen von Vocomo. Wer diese Filme noch nicht sein eigen nennt, darf bedenkenlos zugreifen. Das junge Label Vocomo leistet hier eine beispielhafte Repertoirearbeit.
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The Lost Weekend | USA 1945 | Regie: Billy Wilder | Darsteller: Ray Milland, Jane Wyman, Phillip Terry, Howard Da Silva, Doris Dowling, Frank Faylen u.a.
Kiss me, stupid | USA 1964 | Regie: Billy Wilder | Darsteller: Dean Martin, Kim Novak, Ray Walston, Felicia Farr, Cliff Osmond u.a.
Anbieter: Vocomo