“Ich bekenne Gott, dem Allmächtigen, und allen Brüdern und Schwestern, dass ich Gutes unterlassen und Böses getan habe – ich habe gesündigt in Gedanken, Worten und Werken durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine große Schuld. Darum bitte ich die selige Jungfrau Maria, alle Engel und Heiligen und euch, Brüder und Schwestern, für mich zu beten bei Gott, unserm Herrn.“ Plötzlich bricht dieses Schuldbekenntnis aus der Mutter der von schrecklichen Visionen gepeinigten Tochter hervor, sie weiß sich keinen anderen Rat als den Ruf zu Gott. Mochte der Glaube bis dahin nur eine untergeordnete, tradierte Rolle in ihrem Leben spielen, jetzt fleht sie zum Schöpfer, da sie hinter den Ereignissen seine Strafe für begangene Sünden vermutet. Doch so „einfach“ ist die Erklärung nicht – und die Beschäftigung mit Transzendentem hat gerade erst begonnen.
Bill (John Beck) und Janice Templetons (Marsha Mason) Tochter Ivy (Susan Swift) leidet an peinigenden Träumen und quälenden Erinnerungen an niemals geschehene Ereignisse. Als der geheimnisvolle Elliot Hoover (Anthony Hopkins) auftaucht, erzählt er ihnen von seiner fünfjährigen Tochter Audrey Rose, die bei einem Autounfall gestorben ist. Er ist überzeugt, die Seele seiner Tochter bewohne den Körper von Ivy, die nur wenige Minuten nach dem Unfall geboren wurde. Dem Ehepaar fällt es schwer an diese Reinkarnation von Audrey Rose zu glauben, allerdings werden die Träume zunehmend schlimmer. Als Hoover Ivy entführt, wird er festgenommen und es kommt zu einer Gerichtsverhandlung. Trotz anfänglicher Skepsis glaubt Janice Hoovers Theorie und sagt zu seinen Gunsten aus. Der Anwalt der Templetons (John Hillerman) bittet den Richter (Philip Sterling) daraufhin, Ivy einer Hypnose zu unterziehen, in deren Verlauf sich die Ereignisse zu überschlagen beginnen.
AUDREY ROSE wirft uns mitten hinein in die unsteten 1970er, einer Aufbruchszeit im Kino wie in der Gesellschaft. Die Lagerbildung schritt voran; je mehr die einen sich am Okkulten berauschten, sich eine Sitar zulegten und in indischen Fernen Bewusstseinserweiterndes suchten, desto stärker zogen Erweckungslehrer, Kreationisten und christliche Fundamentalisten gegen solche Umtriebe zu Werke. Mag man sich, je nach eigener Konditionierung im gläubigen wie atheistischen Sinne, zu dem Skript Frank De Felittas verhalten, wie man möchte – dem Gedanken, eine Reinkarnation in den Bereich des Möglichen zu verschieben und in einer Gruselgeschichte zu verbauen, kann man durchaus nachhängen. Die hier evozierte, starke Kontrastierung zwischen Hinduismus und Christentum wirft nicht nur die Familie Templeton aus dem Gleis, auch auf der Tonsur zeitigt Regisseur Robert Wise bewusste Brüche – auf sitarbesetzte Gesänge aus Indien folgen christliche Wallfahrtslieder an einer New Yorker Mädchenschule.
Wise gehörte zu jener „Goldenen Generation“ Hollywoods, die nach dem 2. Weltkrieg einerseits das Handwerk Film von der Pike auf gelernt hatte und als hervorragende Techniker die Genregrenzen mühelos überwandten, andererseits aber Inspiration und Sendungsbewusstsein genug hatten, jedem Film ihren originären Stempel aufzudrücken. So konnte Wise bei AUDREY ROSE auf seine Kenntnisse aus BIS DAS BLUT GEFRIERT (1963) zurückgreifen – immer noch einer der geheimnisvollsten Spuckhausfilme des Kinos – und sich als Spannungsmacher alter Schule profilieren. Für die Schauplätze sicherte sich der Regisseur ebenfalls vertrautes Terrain, sind es doch dieselben Manhattan-Hinterhöfe, auf denen Wise seine WEST SIDE STORY drehte. Mittlerweile weht das Bernstein-Fluidum aber lediglich wie ein an vergangene Zeiten gemahnender Hauch durch die Häuserschluchten. Die Städte sind moderner geworden, die Farben bunter, die Themen andere – aber Wise behält die Zügel stets in den Händen und verlässt sich weniger auf grelle Schocks denn durchdachte Dialoge und schauspielerische Einzelleistungen.
Anthony Hopkins Monologe, in denen er als religiöser Eiferer für seinen Gedanken eintritt, erhalten eine Strahlkraft, die die popkulturelle Faszination für einen Hannibal Lecter Jahrzehnte früher schon begreifbar machen. Insbesondere Marsha Mason scheint die Trennung zwischen Schauspiel und Leben aufheben zu wollen, steigert sich in einen Rausch der Gefühle, Ängste, Hoffnungen und Schmerzen; auch Debütantin Susan Swift kann mehr für sich ins Feld führen als ihre treuen, großen Kinderaugen. Und wer bei John Hillerman nur an dessen spleenige Langzeitrolle in MAGNUM (1980-1986) denkt, wird in AUDREY ROSE eines Besseren belehrt.
Unschätzbar ist die musikalische Untermalung von Michael Small, der sich mit Pakulas „Paranoia-Trilogie“ unsterblich machte und zuvor bei Der Marathon-Mann (1976) ähnliches Territorium bedient hatte. Für AUDREY ROSE entwarf er ein lyrisches Hauptthema im typischen Rockband-meets-Sinfonieorchester-Sound der 1970er, wobei die sinister dräuende Zither stets Ungemach prophezeit. Wie sehr sich das damalige Kino am Okkulten erfreute – mit DER EXORZIST (1973) oder DAS OMEN (1976) hatten ähnliche Sujets Maßstäbe gesetzt – beweist auch die deutsche Synchronfassung, die mit Rosemarie Kirstein, Sabine Plessner, Ivar Combrinck und Werner Uschkurat Sprecher aufbot, die bereits CARRIE – DES SATANS JÜNGSTE TOCHTER (1976) veredelt hatten. Granden wie Hartmut Reck, der eine perfekte Wahl für den famos aufspielenden Anthony Perkins ist, und Manfred Schott gesellen sich dazu, ebenso Leo Bardischewski, Horst Naumann, Manfred Seipold und Alexander Allerson.
NSM veröffentlichte AUDREY ROSE als deutschsprachige Blu-ray-Premiere, wobei sich das Master in sehr gutem Zustand und frei von Defekten präsentiert. Neben dem englischen Originalton ist die deutsche Synchronbearbeitung enthalten. Zusätzlich zu einer DVD-Version des Filmes offeriert das limitiert in drei verschiedenen Covervarianten erschienene Mediabook ein sechzehnseitiges Booklet mit dem Text “Man lebt nur zweimal”, in dem der bewährte Linersautor Nando Rohner auf die literarischen Hintergründe des Filmes, seine Besetzung und die Karriere Robert Wise’ eingeht – großformatige Reproduktionen von Szenenfotos sorgen auch optisch für angenehmen Reiz. Der amerikanische Originaltrailer versetzt einen in die wohlig-gruselige Stimmung alter Kinotage. Neben selbstlaufenden Texttafeln zu den Bio- und Filmographien von Anthony Hopkins, John Beck, Marsha Mason, Norman Lloyd und Susan Swift ist außerdem noch eine umfangreiche Bildergalerie enthalten.
Mag sich der massenwirksame Reiz für okkulte Themen in Zeit des Klimawandels „abgekühlt“ haben, sich der christliche Kirchenglaube noch stärker ins säkularisierte Abseits der Gesellschaft manövriert haben – AUDREY ROSE weiß noch heute uns zu packen. Ob als Zeitspiegel, als findige Gruselgeschichte, als Schauspielerkino oder subkutanes Plädoyer für die Hoffnung auf das, was man nicht sieht und doch glaubt. AUDREY ROSE kann noch jederzeit die Zuschauer hypnotisieren.
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Audrey Rose, US 1977 | Regie: Robert Wise | Darsteller: Marsha Mason, Anthony Hopkins, John Beck, Susan Swift, Norman Lloyd, John Hillerman u.a.
Anbieter: NSM Records