Save the Status Quo.

Wer kein überdurchschnittliches Gedächtnis hat, sollte wohl die bereits sehr komplexen beiden Staffeln nochmal schauen, bevor die dritte zum Zug kommt. Und ja, einen ausgedruckten Stammbaum der Familien und Zeiten neben sich zu legen, hilft auch. Man kann die zweite Staffel von Baran Bo Odars DARK aburteilen wie Teile der deutschen Presse – die „Zeit“ hält DARK für die perfekte Netflixserie, wegen der Anhäufung an kommerziell auswertbaren Themen, die FAZ rät, das Mitdenken beiseite zu lassen -, doch das zielt an der Originalität der Serie vorbei.

Tatsächlich geht es nicht ohne Mitdenken. DARK ist ein manieristisches, ausuferndes Werk, dem man seine Verschachtelungen vorwerfen kann, an dessen Verrätselungen man sich aber auch sehr erfreuen mag. Wie bei Peter Greenaway, nur anders (etwas weniger akademisch). Die Komplexität verschiedener Figuren, die man teilweise in drei Lebensphasen (immer 33 Jahre auseinander) kennen muss und die dann auch noch kreuz und quer durch die Zeit reisen – das hat es so wohl noch nie gegeben. Auch nicht beim Vorbild für „komplexe Durchgeknalltheit, die immer noch funktioniert“, der zweiten Staffel TWIN PEAKS, die für damalige Verhältnisse in ziemlich verworrene, dunkle (Wald-) Gebiete vorstiess (nicht zu verwechseln mit der dritten Staffel TWIN PEAKS, die in kaum zu entwirrende Gebiete führte).

Die zweite Staffel von DARK ist ständig dabei, vor lauter Komplexität ihre eigentliche große Geschichte aus den Augen zu verlieren. Eigentlich geht es darum, die Apokalypse abzuwenden, um unsere Gesellschaftsform beizubehalten, die 80er-Jahre-Gegenwart, bzw. eine Welt zwischen Raider und Twix. Das ist die zugrunde liegende Ideologie, und für diese Rettung der Gegenwart werden die Vergangenheit und sogar die Zukunft aufgeboten: Mit Jonas Kahnwald reist der Zuschauer mehrmals in die Welt nach der Apokalypse im Jahr 2052, in der Madmax-mäßig kleine Gruppierungen um wenige Ressourcen streiten. Jonas wird gewarnt, ins Atomkraftwerk zu gehen, doch nachts schleicht er sich jeweils in die „Todeszone“ des KKW und entdeckt dort ein sich seltsam bewegendes Objekt, das später als Higgs-Teilchen (bzw. Gottesteilchen) identifiziert wird und Bedeutung erlangt.

Diese düstere Zukunft will verändert werden. Dafür soll die Apokalypse 2020 abgewendet werden. Das stellt sich jedoch nicht als so einfach heraus, wie das Zeitreisende üblicherweise tun, also – hops! – in eine andere Zeit zurück und dort die richtige Änderung angebracht. Die einfachen BACK TO THE FUTURE-Regeln gelten hier nicht, das Verhältnis Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft ist nämlich viel zu komplex und gibt es so gar nicht. Erst recht nicht in DARK, wo ein gerüttelt Maß an Okkultem, Biblischem und Wissenschaften unters Messer kommen. Vor allem die Gegenwart wird im Verlauf der Serie immer mehr demontiert, denn je länger, desto mehr scheint sie ihre Bedeutung zu verlieren.

Mit fortschreitender Story scheint DARK auch das Prinzip des Rationalen abhanden zu kommen. Die Serie schlägt plötzlich den großen Bogen von Altem Testament bis hin zur Quantenphysik. Was phasenweise durchaus attraktiv ist. Viele der Zeitreisenden stellen sich als geheimbündlerische Gruppierung heraus, zu der auch Jonas Kahnwald (als „Gravitationszentrum“ der Serie) nicht nur gehört, sondern die er gar anführt. Und zwar im Jahr 1921 als alter Mann unter dem Namen Adam. Das bedeutet, dass Noah (Mark Waschke), von dem wir in der ersten Staffel annahmen, er sei der Anführer, sich lediglich als Unterstützer und Ausführender von Adams Plänen entpuppt. Die beiden Namen mögen aus der biblischen Frühzeit der Welt kommen (Adam, Noah), die Gruppierung selbst hat jedoch einen okkulten Hintergrund. Ihr Name „Sic mundus, creatus est“ („Die Welt wird geschaffen“) stammt aus einem der berühmtesten Texte der okkulten Welt, der Tabula Smaragdina (6. Jhd. n.Chr.). Die „smaragdene Tafel“ als Grundlagentext der Alchemie verweist nicht zuletzt auf die Anfänge der Chemie und endet in der Quantenphysik, beim Higgs-Teilchen. Wir sehen schon: Auf seine eigene „deutsche“ Art ist DARK auf der Suche nach einer umfassenden Welterklärung, in der Facts und alternative Facts gleichberechtigt nebeneinander stehen.

Wer die 13 Punkte der Tabula Smaragdina liest, die „Verfassung der geheimen Künste des Hermes Trismegistens“, wird in den wenigen Leitsätzen einige Geheimnisse der Serie entdecken und kann daraus nicht nur den Schluss ziehen, dass DARK mit „Die Welt wird geschaffen“ nicht nur die Möglichkeit der Menschen aufzeigt, die Welt nach eigenem Willen zu gestalten (ein Gestalten im Kräftefeld zwischen Gut und Böse), sondern sich vor allem für die Zusammenhänge der großen und kleinen Dinge interessiert: „Mit der Kraft der Kräfte wirst du jegliches feine Ding bewältigen, wirst du in jegliches grobe Ding eindringen.“ (Übersetzung: H. Leuenberger, 2006, nach Wikipedia) Was hat also das kleine Higgs-Teilchen mit dem großen Weltuntergang zu tun?

Des Pudels Kern verbirgt sich im Atomkraftwerk von Winden. Hier ist das Geheimnis versteckt. Nicht nur, weil sich in der eingezonten KKW-Ruine des Jahres 2052 Dunkle Materie manifestiert und weil Zeitreisen nur in den unterirdischen Gängen des Kernkraftwerks, erreichbar über eine Höhle, möglich werden. Sondern auch in Claudia Tiedemanns Tagebuch der 1980er Jahre. Noah erhält von Adam den Auftrag, die fehlende Tagebuchseiten der Atomkraftwerkleiterin zu finden. Als er sie umbringt, ist eine Textpassage daraus zu erkennen (glaubt man den Darkologen in den Foren), die aus Schopenhausers „Die Welt als Wille und Vorstellung“ stammt, in dem es um den „objektivierten Willen“ zum Leben geht: um Schildkröten, die trotz Willen zu Leben und Fortpflanzung von Hunden einfach getötet werden.

Weiter ins DARK-Universum gelangt man, wenn man die Namen der Protagonisten unter die Lupe nimmt. Auch sie bewegen sich im gleichen Spektrum, vom Anbeginn der Menschheit zu moderner Wissenschaft. Der erste Mensch Adam und der Sintflut-Reisende Noah sind nicht die einzigen biblischen Abkömmlinge – die andere Seite Adams ist ja Jonas (Kahnwald), in der Bibel ein Prophet, der von Gott geschickt wurde, den ruchlosen Bewohnern der Stadt Ninive ein Strafgericht Gottes anzudrohen. Als Jonas sich dem widersetzt, springt er ins Meer und wird von einem großen Fisch verschlungen und nach 3 Tagen ausgespuckt. Im weiteren Verlauf rettet Jonas die Stadt Ninive und gerät in Zorn über Gott. Hier spiegelt sich vermutlich Jonas‘ Konflikt mit seinem (Alter) Ego Adam, während die Fischmetapher sich als Zeitreise lesen lässt (so ist auch Noahs biblische Geschichte mit einer Fahrt übers Meer verbunden: Biblische Meeresreisen werden in DARK zu Zeitreisen).

Dass der Uhrmacher und Erfinder der Zeitreisemaschine H.G. Tannhaus heisst, erscheint zuvorderst als Verneigung eines Fans von H.G. Wells, dem Autor des dystopischen SciFi-Romans „Die Zeitmaschine“ aus dem 19. Jahrhundert. Auch der Nachname Tannhaus bezieht sich auf Science Fiction: auf das berühmte „Tannhäuser Tor“ (Tannhauser Gate) aus Ridley Scotts BLADE RUNNER. Die berühmte Rede des sterbenden Replikanten Roy Batty (Rutger Hauer) liest sich auch als Moment, in dem Geschichte verloren geht in der Zeit – und das nahe eines Durchgangs, dem Tannhäuser Tor: „Ich habe Dinge gesehen, die ihr Menschen niemals glauben würdet. Gigantische Schiffe, die brannten, draußen vor der Schulter des Orion. Und ich habe C-Beams gesehen, glitzernd im Dunkeln, nahe dem Tannhäuser Tor. All diese Momente werden verloren sein in der Zeit, so wie Tränen im Regen. (…) Zeit zu sterben.“ Zu diesem Hinweis auf einen Durchgang in eine andere Welt passt natürlich auch der Name Kahnwald – das Schiff, das sich durch den Wald (Welt / Ort des Kernkraftwerks) pflügt. Ganz wissenschaftlich nimmt sich dagegen der Nachnahme Doppler aus, der uns vom Doppler-Effekt ein Begriff ist – der zeitlichen Dehnung oder Stauchung von einem oder zwei bewegten Objekten zueinander (am besten wahrnehmbar bei einem Auto das an einem vorbeifährt).

In welche Richtung sich DARK ideologisch und inhaltlich entwickeln wird, wird erst die 3. Staffel definitiv zeigen. Dass DARK aber viel mehr ist als eine übliche Serie, dürfte klar sein. Während viele populäre Netflix-Serien wie z.B. STRANGER THINGS „Coming of Age“-Stories sind, in denen den pubertierenden Teenagern nicht die Lösung ihrer Liebes- und anderer emotionaler Probleme aufgebürdet wird, sondern nichts weniger als die Rettung der Welt (ja, als hätten die fiktiven Weltenretter-Kids die reale Greta Thunberg erst ermöglicht), geht DARK noch ein paar Schrittchen weiter. Hier verlieren sich Liebesprobleme vollständig, scheint es, dafür werden die gesellschaftlichen Probleme nicht mehr scheinbar unfähigen Erwachsenen aufgebürdet. Die Fallhöhe ist groß, wenn ein Jonas Kahnwald die instabilen Familienverhältnisse hinter sich lässt und sich nur noch auf die Weltrettung konzentriert.

Die alles entscheidende Frage bleibt also: Wird das Minimalprogramm für die Menschheit erreicht und die Welt gerettet? Und unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen?

Dark, Deutschland 2019 | Regie: Baran bo Odar | Drehbuch: Jantje Friese, Martin Behnke | Kamera: Niklaus Summerer | Darsteller: Oliver Masucci, Louis Hofmann, Karolin Eichhorn u.v.a. | Laufzeit: 600 Min.