Die Welt des Sechziger-Jahre-Spionagefilms zeigte, dass sich Auseinandersetzungen nicht nur zwischen den beiden Machtblöcken unter der Führung der USA und der Sowjetunion abspielten, sondern dass auch andere Player eine Gefahr darstellen konnten (und können). Bereits in der frühen James-Bond-Filmwelt werden die Verunsicherung der Welt und des Individuums nicht ausschließlich durch Russen oder Amerikaner verursacht, sondern durch megalomane Kapitalisten, hinter denen oftmals eine Geheimorganisation steht: S.P.E.C.T.R.E., die „Special Executive for Counter Intelligence, Terrorism, Revenge and Extortion“. Diese grandiose Metapher (Spectre = engl. für „Geist“) für das in der damaligen westlichen Gesellschaft Unsagbare und die undefinierte Paranoia der Zeit soll hier nicht aufgeschlüsselt werden, zeigt aber, dass die Lage der Welt bereits damals eine wundervolle Metapher bot für das Unwohlsein in der Gesellschaft und wie man gleichzeitig spürte, dass die eigene Befindlichkeit durchaus mit dem Weltgeschehen in Verbindung stand. (So, wie man auch heute fühlt, dass das Weltgeschehen die eigene Existenz beeinflusst – Ausdruck davon sind die ins Kraut schießenden Verschwörungstheorien z.B. von Geheimplänen ausgerechnet der Philantropen wie Bill Gates oder George Soros oder der nicht minder wirre Kampf gegen den „Deep State“, zu dem sich gar die Widersacher Donald Trump und Robert Mueller insgeheim vereinigt hätten. Klingt alles sehr nach S.P.E.C.T.R.E., oder?!)
Das heisst nicht, dass in den Spionagefilmen der sechziger Jahre nicht auch reale Gefahren jenseits der beiden Großmächte für Paranoia sorgen konnten. Nazis, die sich neu formieren, zum Beispiel. In Michael Andersons THE QUILLER MEMORANDUM wird der US-Geheimagent Quiller (George Segal) in Ausleihe an den britischen Geheimdienst damit beauftragt, in Berlin den Anführer einer Nazi-Organisation zu finden, zumal vor ihm bereits zwei britische Agenten ermordet wurden. Bei THE QUILLER MEMORANDUM handelt es sich aber nicht um einen Actionfilm im Stile der Bond-Filme und so vieler Nachahmer der Zeit. Nach einem Drehbuch des britischen Theaterautors Harold Pinter wird hier die Welt der Geheimagenten als unverständliche Subkultur mit fremdartigen Strukturen und Codes dargestellt.
Dass man in der Untergrund-Welt der Spionage in Berlin schnell einmal sterben kann, erfährt ein britischer Geheimagent gleich in der Eingangsszene des Films. Dunkle Straße, Telefonzelle, ein Anruf, eine Zigarette anzünden, starrer Blick knapp an der Kamera vorbei. Ein Schuss. Dunkel und emotionslos wie im Film Noir. Dass Quiller den Fall übernimmt, weil der britische Geheimdienst keinen fähigen Mann mehr in Berlin hat, führt nun zu einer doppelten Entfremdung: Quiller weiss zum einen nicht, wem er bei den Briten vertrauen kann, und muss sich ausserdem in der Welt der Alt- und Neonazis zurechtfinden. Als Ort für die erste Begegnung wählt sein neuer Vorgesetzter Pol (Alec Guinness) mit britischem Verständnis für Humor das – famous Nazi Place – Berliner Olympiastadion aus, und die Zuschauer werden gleich mit einem sprachlichen Code zur Kontaktaufnahme bekannt gemacht: Zigaretten. Anbieten, schnorren, über eine bestimmte Marke sprechen – all das erhält eine Bedeutung und passt natürlich in Pinters Repertoire, in dessen Theaterstücken reduzierte Wörter wie „Ja“ und „Nein“ mannigfache Bedeutungen annehmen und Geschichten erzählen. Quiller soll den Führer der geheimen Naziorganisation „Phoenix“ ausfindig machen und recherchiert erst einmal an einer modernen Berliner Schule, an der ein Kriegsverbrecher, Steiner, einst unterrichtete. Quiller gibt sich als Journalist aus und wird an die englischsprechende junge Lehrerin Inge Lindt (Senta Berger) verwiesen. Dass sie mehr weiss, und dass er Null Komma Nichts in ihrer ausgesprochen elegant eingerichteten Wohnung landet, mag schon merkwürdig erscheinen. Tatsächlich wird auch später nicht klar werden, welche Rolle Inge in der Geheimdienstwelt spielt – denn tatsächlich scheint auch eine Verbindung zu den Nazis zu bestehen, auch wenn sie ihren Lehrberuf dezent als un-nationalistisch definiert: „Ich versuche deutschen Kindern zu vermitteln, dass Deutschland nicht der Mittelpunkt der Welt ist.“
Dass selbst eine Schule zu einem geheimnisvollen Ort der Agentenwelt wird, ist Pinters Ambition geschuldet, die Gefahr der Indoktrination von Kindern und Jugendlichen für faschistisches Gedankengut anklingen zu lassen. Als Quiller Inge verlässt, wird er im Auto verfolgt. Obwohl er die Beschatter abhängen kann, stoppt an einer Ampel ein eleganter Mercedes neben ihm. Seine Wahrnehmung verblasst. Unscharfe Kamerabilder, schräge Einstellungen, Quiller schläft ein. Jemand schiebt ihn vom Fahrersitz weg mit den Worten „Ich werde jetzt fahren“. Quiller bekommt die Fahrt halbwegs in verschwommenen Eindrücken mit und landet direkt in einem alten Gemäuer, das sich als Hauptquartier von „Phoenix“ herausstellt. Als er von dem Anführer der Nazi-Bande, Oktober (Max Von Sydow), verhört wird, bleibt er auch standhaft, nachdem ihm eine Wahrheitsdroge injiziert wurde. Statt vernünftiger Lügen über den angeblichen Beruf in einem New Yorker Verlag gibt er nun geradewegs obszöne Antworten über die Attraktivität von Inge, ihre langen Beine – so sehr, dass man darin eine Freudsche Verschiebung erkennen mag: QUILLER MEMORANDUM legt hier explizit die tiefere Ebene des Agentenfilms offen. Der unterschwellige Wunsch nach Sex-Appeal-Lifestyle (wie in Bond-Filmen) und dem Verschwinden der Restriktionen einer biederen Nachkriegswelt.
Überhaupt drehen sich Gespräche, Diskussionen und Verhöre kaum je um Politisches, sondern lediglich um Strategie. Erklärt wird das von Pol in einer Frühstücksszene mit zwei Muffins, die zwei feindliche Organisationen darstellen. Es gehe darum, möglichst nahe an die eine Organisation heranzukommen, ohne dieser zu verraten, wo die andere sich befinde. Wie zwei kafkasche Schlösser, an die man versucht, immer näher heran zu kommen. Es geht also auch darum, den Ort flexibel zu halten bzw. zu ändern.
Die Verschiebungsmetapher zeigt sich auch ganz explizit in der Filmhandlung. Tatsächlich existiert das Hauptquartier der Nazis zu dem Zeitpunkt nicht mehr am gleichen Ort wie vorher, tatsächlich ist auch der britische Geheimdienst nicht so einfach aufzuspüren. Das vermittelt die Paranoia, die düstere Agentenfilme wie QUILLER MEMORANDUM in den sechziger Jahren die emotionale Tiefe gaben. Das Nicht-Wissen, wo man hingehört, was die Spielregeln sind, was richtig oder falsch ist. Ein Leben mit schwindenden Gewissheiten, oder in anderen Worten: „Wenn ich nicht zurück bin in 20 Minuten, ruf 212 682 an und sag, dass du keine Zigaretten mehr hast.“ Interessant ist es in diesem Zusammenhang auch, dass Quiller sich in abgefuckten Kneipen, beengenden Hotels und Hinterhofgaragen durchschlägt, immer in der Defensive (und einmal tatsächlich auch von Tausendsassa Herbert Fux in einer Minirolle durch Berlin verfolgt wird).
Abgesehen davon, dass George Segal als Quiller eine Fehlbesetzung ist, stimmt ziemlich viel an dem Film. Der Titeltrack von John Barry hat das typische Agentenfilmcembalo, dazu komponierte und arrangierte er den Song „Wednesday’s Child“, der durchaus wie ein früher Bond-Song daherkommt, auf Wunsch Pinters aber etwas „kindlicher“ sein sollte. Nicht zuletzt liess er auch Matt Monro ans Mikrofon, der bereits Barrys Filmsongs „From Russia with Love“ (1963) und „Born Free“ (1966) gesungen hatte. Das Drehbuch von Pinter mag längst nicht sein bestes sein, ist aber immer noch herausragend, was Spionagefilme betrifft. Als Adaption von Elleston Trevors Roman „The Berlin Memorandum“ lässt er viele politische Hintergründe, die der Roman liefert, weg und die Story sehr im Ungewissen. An der Kinokasse allerdings zahlte sich THE QUILLER MEMORANDUM nicht aus. Ein Jahr nach den beiden „großen“ Anti-Bond-Agentenfilmen THE SPY WHO CAME IN FROM THE COLD und THE IPCRESS FILE war dem Werk lediglich ein Achtungserfolg beschieden.
___________________________________________________________________
The Quiller Memorandum | Regie: Michael Anderson | Drehbuch: Harald Pinter | Musik: John Barry | Darsteller: George Segal, Senta Berger, Max von Sydow, Alec Guinness, u.a.
Anbieter: WVG Medien GmbH