Inside Ferrara.

Ziemlich genau ein Vierteljahrhundert nach SNAKE EYES (1993), Abel Ferraras offensiver Abrechnung mit sich selbst, folgt nun mit TOMMASO eine Art Update. An diesem ist bestens abzulesen, wie sehr sich der Regisseur und sein Schaffen gewandelt haben und wie viel doch gleich geblieben ist.
Am wenigsten haben sich die fehlenden Trennlinien verändert. In SNAKE EYES hatte Ferrara seine Ehefrau Nancy als Filmgattin eines Regisseurs gecastet, der ihm auffällig glich. Nun spielt Willem Dafoe den New Yorker Filmemacher Tommaso, der seit geraumer Zeit in Rom lebt, der einen Film in eisigen Gefilden vorbereitet, der zwei Adoptivkinder im Stich gelassen hat und der seine Drogenprobleme bewältigen konnte. Die biografischen Parallelen zu Ferrara sind kaum zu übersehen. Und Tommasos Lebensgefährtin Nikki sowie die gemeinsame, gerade dem Babyalter entwachsene Tochter Deedee werden wiederum von ihren realen Counterparts gespielt – von Ferraras neuer Ehefrau Cristina Chiriac und ihrem Kind Anna.
Anna Ferrara tanzt denn auch in einer entscheidenden Szene auf einem Balkon. Dass sie gefilmt wird, scheint ihr nicht bewusst zu sein. Als sie es dann doch bemerkt, tippelt sie auf die Kamera zu und ruft freudig, knapp am Objektiv vorbeiblickend: „Papa“. Ob nun Deedee Tommaso anspricht oder Anna Ferrara ihren Vater Abel, lässt sich nicht sagen. In diesem knappen Moment einfacher kindlicher Zuneigung und elterlicher Bindung verfestigt sich jedoch die emotionale Involvierung des Filmemachers. Drehte sich SNAKE EYES noch um Ferraras Rolle als Ehemann, so ist TOMMASO eine Untersuchung seines Vaterseins.
Ein Vater wird dabei gezeigt, der ruhig durch seinen Alltag gleitet, der den Umgang mit Menschen genießt, der von Schuldgefühlen, Verantwortungsneurosen und Fluchtgedanken geplagt ist, der seine Tochter liebt, aber doch auch andere Impulse und Wünsche mit sich herumträgt. In einer Schauspielstunde erklärt Tommaso, das Glück sei für ihn dort zu finden, wo er in seinen Handlungen aufgehe. Wenn die Tochter nun dieses „Papa“ ausspricht, ist seine Sehnsucht danach spürbar, in der Liebe zu ihr aufzugehen – aber auch der Schmerz, weil er doch aus viel mehr besteht.
Viel kommuniziert Tommaso auf Italienisch, wobei sich stets kleinere Pausen einschleichen. Schließlich lernt er diese Sprache auch noch, die Stunden sind Teil des gezeigten Alltags. Seine Tochter spricht neben Englisch und Italienisch auch Moldawisch, eine Sprache, die er nicht versteht. Immer wieder besucht er die Anonymen Alkoholiker und erzählt von seinem früheren und seinem jetzigen Leben. Von Schuldgefühlen und übertriebenen Wiedergutmachungsversuchen, die – es wird eindringlich zu sehen sein – seine jetzige Familie durchaus in Geiselhaft nehmen. Bei alledem zeigt TOMMASO einen geordneten Alltag in einem gelassenen Fluss. Betont werden darin aber die kleinen Risse, Lücken, Anstrengungen und Widerstände, die verhindern, dass Tommaso in seinen Handlungen aufgehen kann – und sei es die im Nebenraum weinende Deedee (Anna), die ihn und Nikki (Chiriac) beim Sex unterbricht.
In diesem Alltagsfluss beginnt Tommaso nun zu träumen. Oft befördert uns ein Schnitt unvermittelt in latent irreale Situationen, wo er sich beispielsweise plötzlich von nackten Frauen umgeben sieht. Komplizierter wird es, wenn die Fantasien sich in den Alltag einweben. Ob Nikki wirklich einen Mann leidenschaftlich in der Nähe eines Spielplatzes küsst oder ob es nur eine Eifersuchtsfantasie ist, bleibt fragwürdig. Sex, Eifersucht und Tod bestimmen diese Tagträume; wie real das Gezeigte ist, wird zunehmend unklar. Mal sind sie verspielt, mal drastisch. In allen steckt aber, mal mehr, mal weniger offen, der Wunsch nach Veränderung, nach einem Ausbruch.
Die Welt von TOMMASO ist eine globalisierte und pluralistische. Der in Rom lebende New Yorker mit moldawischer Frau trifft auf Italiener, Engländer, Pakistanis oder nicht näher definierte, falls überhaupt reale Afrikaner oder Afroitaliener. Videoaufnahmen, Filmausschnitte, Fernsehsendungen (wie „Ukraine sucht den Superstar“) oder folkloristische Musikbeiträge werden integriert. Tommaso läuft von Ort zu Ort, von Person zu Person und erlebt mal diese, mal jene Kleinigkeit, die alle erst in Summe ein Bild ergeben. War die inszenatorische Hand 1993 noch klar in der Mise en Scène zu erkennen, ist die Kamera hier eine Beobachterin, die auf scheinbar Vorgefundenes trifft. Im übersteuerten Licht auf der Straße und in den dunklen, gesättigten Farben bei den AAs wird das entwerfende Prinzip eines Filmemachers noch am ehesten greifbar. Vornehmlich wird hier aber schlicht ein Fluss aus Eindrücken geordnet.
Die Zerrissenheit der Hauptfigur, der Handlung und des Bildmaterials schafft einen Ort der Bereicherung, aber auch einen, in dem Tommaso scheitert. Die freudigen Begrüßungen und Verabschiedungen Tommasos der ersten halben Stunde bleiben im Laufe der Zeit gänzlich aus. Dafür entlädt er sich – vor allem in der Paarbeziehung – immer mehr in Wutausbrüchen. Die größte Änderung Ferraras in den letzten 25 Jahren ist dabei nicht etwa die Erkenntnis, dass er bzw. sein Protagonist ein Problem mit Nähe hat. Sondern, dass es dafür nicht mehr wie früher explosive Momente braucht. SNAKE EYES wartet mit einem bildgewaltigen, dissoziativen Horrormoment auf sowie einer drastischen Vergewaltigungsszene. Nun reicht eben ein Wutanfall, um Tommaso zur (selbst-)zerstörerischen Figur zu machen. Die Ruhe des Films gibt Kleinigkeiten große Wirkung. In den luftigen Momentaufnahmen wirken die kleinsten Anzeichen von Niedertracht giftig.
Der filmische Seelenstriptease ist dabei nicht weniger bitter und engagiert. Aber zärtlicher ist TOMMASO im Vergleich zu SNAKE EYES allemal, gefasster und altersmild. Einmal träumt sich Tommaso vor einen Polizeichef, den er durchschaut, als sei er selbst Jesus und der andere Pontius Pilatus; oder er fantasiert sich gleich ans Kreuz, von dem er herabgrinst: Statt sich zu zerfleischen, verlacht Ferrara eher einen Tor, der sein Leiden einem Jesus ebenbürtig hält. Abel Ferrara war nie jemand, der vor Selbstgeißelung zurückschreckte. Viel Unschönes gibt er von sich preis. Nur hat diese Selbstgeißelung inzwischen ein gelasseneres Antlitz – und vor allem verschließt sie nicht mehr die Augen vor der sie umgebenden Schönheit.

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Tommaso, Italien 2019 | Regie: Abel Ferrara | Drehbuch: Abel Ferrara | Musik: Joe Delia | Kamera: Peter Zeitlinger | Darsteller: Willem Dafoe, Cristina Chiriac, Anna Ferrara, u.a. | Laufzeit: 115 min.

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors. Erschienen auf critic.de