Philip Glass komponierte den einprägsamen Soundtrack zu Godfrey Reggios zivilisationskritischem Dokumentarfilm KOYAANISQATSI (1976-1982), dessen Titel der Hopi-Sprache entlehnt sinngemäß „Leben in Auflösung“ oder „Leben, das aus dem Gleichgewicht geraten ist“ bedeutet, und zu CANDYMAN (1992, Regie: Bernard Rose, der auch als Mythenforscher Archie Walsh zu sehen ist), einem der vielschichtigsten Horrorfilme der 1990er Jahre. Beide Filme verbindet, dass sie mit einer drastischen Bildsprache Ideologien entlarven: die pulsierende Ruhelosigkeit des Verkehrsnetzes wechselt mit bedrückenden Aufnahmen von trostlosen Wohnblocksiedlungen mit zerschlagenen Fensterscheiben. Eine aus den Fugen geratene Welt zeigt auch CANDYMAN, der vom realen Horror von Armut, Diskriminierung und sozialer Ausgrenzung erzählt: Wir lernen eine junge Doktorandin kennen, die unter der Untreue ihres Ehemannes leidet und sich nichts sehnlicher als ein Kind wünscht. Wir erfahren vom Leid einer alleinerziehenden Mutter, deren Baby entführt wurde. Und wir begegnen einem Geist, der von dem menschlichen Wunsch getrieben wird, von einem anderen Menschen geliebt zu werden.
Helen Lyle (Virginia Madsen) und Bernadette Walsh (Kasi Lemmons) schreiben an einer Dissertation über urbane Legenden, eine Thematik, über die Helens Ehemann Trevor (Xander Berkeley) an der Chicagoer Universität unterrichtet. Dabei fühlt sich Helen angezogen von dem von hoher Einkommensarmut betroffenen Cabrini-Green-Viertel, deren Bewohner von rivalisierenden Gangs terrorisiert werden. Besonders fasziniert sie der Mythos des Candyman (Tony Todd): Der Sohn eines zu Wohlstand gekommenen ehemaligen Sklaven und begabte Porträtmaler unterhielt eine Liebesbeziehung zu der Tochter eines Großgrundbesitzers und wurde von einer rassistischen Bande zu Tode gefoltert. Der Legende zu Folge soll der Geist des Candyman, der statt der abgetrennten Hand einen Haken trägt, erscheinen, wenn sein Name fünfmal vor dem Spiegel gerufen wird. Bei ihren Recherchen treffen Helen und Bernadette die verängstigte Anne-Marie McCoy (Vanessa A. Williams), die mit ihrem Sohn Anthony in einer engen Wohnung in Cabrini Green lebt und zunächst annimmt, mit der Studie sollten die Bewohner des Stadtteils allgemein als kriminell oder weniger intelligent dargestellt werden. Helen wird von einem mit einem Haken bewaffneten Mann attackiert, der später mehrerer Morde überführt wird. Daraufhin wird Helen immer wieder mit Visionen konfrontiert, in der ihr der Candyman erscheint, der in ihr seine frühere Geliebte erkennt (1). Verdächtigt, das Baby von Anne-Marie entführt und Bernadette getötet zu haben, wird Helen schließlich in die Psychiatrie eingewiesen.
CANDYMAN zeigt eine tief gespaltene Gesellschaft und die Reproduktionsmechanismen sozialer Ungleichheit: Obwohl mit ökonomischem wie kulturellem Kapital ausgestattet, wird der Candyman weiterhin wegen seiner Herkunft aus rassistischen Gründen abgelehnt. Dass ihn eine Verbrecherbande im Auftrag eines Großgrundbesitzers tötet, verweist deutlich auf die Kriminalität der „oberen Klasse“ (White-Collar-Crime), die meist im öffentlichen Bewusstsein weniger wahrgenommen wird wie deren Pendant (Blue-Collar-Crime). Die Bewohner von Cabrini Green leben unter prekären Wohn- und Lebensbedingungen und sind selbst am stärksten von Straftaten betroffen, während sie außerhalb des Viertels als kriminell und als Empfänger staatlicher Transferleistungen diskriminiert und deren Anliegen auch kaum ernst genommen werden. Anne-Marie beklagt, dass in der Nacht, als ihre Nachbarin ermordet wurde, sie den Notruf gerufen habe, aber niemand kam, während nach dem Angriff auf Helen der gesamte Stadtteil durchsucht wird.
Ähnlich wie der Pruitt-Igoe-Wohnkomplex in St. Louis, Missouri, dessen spektakuläre Sprengung im Jahr 1972 in KOYAANISQATSI gezeigt wird, wird auch die Geschichte des Cabrini-Green-Viertels häufig als Beispiel für das Scheitern sozialen Wohnungsbaus angeführt (2). Die Außenaufnahmen von CANDYMAN fanden innerhalb einer Woche statt. Um Konfrontationen zu vermeiden, wurden Gangmitglieder als Komparsen eingesetzt, während unter Aufsicht der Polizei oberhalb des 10. Stockwerkes kein Zugang bestand, um Heckenschützenaktivitäten zu verhindern. Die Bezeichnung Candyman – eine allgemeine Bezeichnung für einen Drogendealer – verweist auch auf den Serienmörder Dean Corll, der in den frühen 1970er Jahren mehrere Jungen missbrauchte und ermordete, während das äußere Erscheinungsbild einer mit einem Haken bewaffneten Figur auf die Geschichte Peter Pans und den Konflikt mit Captain Hook hindeutet (3). In ersten Entwürfen wurde Peter Pan auch von James M. Barrie als Mörder der Jungen, die mit ihm ewig im Neverland leben, konzipiert. Obwohl in einzelnen Aspekten von der Vorlage THE FORBIDDEN von Clive Barker abweichend, steht CANDYMAN noch deutlich in der Tradition der Vorgänger-Filme HELLRAISER – DAS TOR ZUR HÖLLE (HELLRAISER, 1987) und CABAL – DIE BRUT DER NACHT (NIGHTBREED, 1990), die von Barker selbst inszeniert wurden und in denen ebenfalls Serienmord, brüchige Beziehungen und Institutionenkritik eine wichtige Rolle spielen. Auch Helen kennt die Sehnsucht nach einer idealen Welt jenseits der Realität und wird entwürdigend in der Psychiatrie – deren Architektur und Konzeption deutlich an Cabrini Green erinnert – behandelt.
Fast drei Jahrzehnte nach der Veröffentlichung hat CANDYMAN nichts von seiner Brisanz verloren. Es entstanden zwei Fortsetzungen – CANDYMAN 2 – DIE BLUTRACHE (CANDYMAN: FAREWELL TO THE FLESH, 1995, Regie: Bill Condon) und CANDYMAN 3 – DER TAG DER TOTEN (CANDYMAN 3: DAY OF THE DEAD, Regie: Turi Meyer) sowie CANDYMAN (2021, Regie: Nia DaCosta), eine Neuinterpration um den jetzt erwachsenen Anthony McCoy, der auch die Gentrifizierungs-Problematik thematisiert.
(1) Eine Thematik, wie sie auch in dem fast zeitgleich entstandenem BRAM STOKERS DRACULA (1992, Regie: Francis Ford Coppola) vorkommt.
(2) Zu einer kritischen Analyse: The Pruitt-Igoe-Myth (2011, Regie: Chad Friedrichs).
(3) HOOK (1991, Regie: Steven Spielberg) mit Dustin Hoffman in der Titelrolle entstand ein Jahr vor CANDYMAN.
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Candyman, USA 1992 | Regie: Bernard Rose | Drehbuch: Bernard Rose, nach einer Erzählung von Clive Barker | Kamera: Anthony B. Richmond | Musik: Philip Glass | Darsteller: Virginia Madsen, Tony Todd, Vanessa Williams, Xander Berkeley, u.a. | Laufzeit: 99 Min.
Weiterführende Literatur:
Cherry, Brigids (2009): Horror. New York.
Morrien, Rita (2000): „Scared of something?” – Liebe und andere Verbrechen in Bernard Roses Horrorfilm Candyman. In: Brueckel, Ina und Rita Morrien (Hrsg.): Bei Gefahr des Untergangs. Phantasien des Aufbrechens. Festschrift für Irmgard Roebling. Würzburg. S. 389 – 405.
Preis, Stefan (2015): Zeichen der Gewalt. Die mediale Darstellung der Familie, von Geschlechterrollen und ethnischen Konflikten in „The Shining“ und „Candyman“. Texte zum kontroversen Film. Berlin.