Und plötzlich wurde Popmusik grenzenlos. Sprengte alle Konventionen. Katapultierte sich ins All. Wir schreiben das Jahr 1969, als King Crimson mit ihrem ersten Album „In the Court of the Crimson King“ eine Revolution anzettelten. Unter der Bezeichnung „Progresssive Rock“ verbergen sich manchmal bis zu 20minütige Songs, Tempiwechsel, komplizierte Rhythmen, ungewöhnliche Instrumentierungen und vieles mehr, das der heutigen Fastfood-Mentalität nicht entspricht. Viel Häme wurde seit den ProgRock-dominierten Siebzigern über die wirbligen Soundkaskaden von Yes, Genesis und Co. geschüttet, dass der Stil bis heute nicht wieder mehrheitsfähig geworden ist. Trotzdem wäre nicht nur die Musikwelt um einiges ärmer ohne Prog mit seinen vielen Innovationen, auch die Filmwelt würde leiden. Und: auch Italiens Filmwelt der Siebziger. Vor allem eine Band steht sinnbildlich dafür: Goblin.
In diesem Artikel sollen allerdings nicht die Soundtracks von Goblin und ein paar weiteren Bands vorgestellt werden, sondern ihr außerfilmisches Schaffen, dass in manchen Fällen noch exzellenter ist als die Soundtracks.
Progressive Rock ist definitiv eine der innovativsten musikalischen Bewegungen in der Geschichte der Popmusik. Alle Vorstellungen davon, wie Popmusik zu klingen hat, wurden in alle möglichen Richtungen erweitert oder umgekrempelt. Bands wie Jethro Tull oder Genesis schrieben Songs von über 20 Minuten Länge (eine LP-Seite), Yes schweißten Songs aus unzähligen Tempi- und Rhythmuswechseln. Komplexe Rhythmen fanden ebenso Einlass in die Popmusik wie Instrumente, die weit über Bass, Schlagzeug, Gitarre und orchestrales Arrangement hinausführten. Nicht nur Holz- und Blechblasinstrumente waren plötzlich angesagt, so wie Sitar und andere exotische Instrumente, auch mit den ersten Synthesizern konnte man in unerforschte Klanggebiete vordringen. Emerson, Lake and Palmer (ELP) und Keith Emersons Vorläuferband The Nice formten Klassik zu Rock um, Jethro Tull erhoben die Flöte zum Rockinstrument und Pink Floyd verstanden es, ihre pop-psychedelischen Wurzeln aus den Sechzigern in immer wieder neue, überraschende Experimente einzubetten.
Was jedoch kaum jemand weiß: Auch in Italien bildete sich eine unglaublich breitgefächerte ProgRock-Szene heraus. Einige der Bands sind heute in Italien noch bekannt und beliebt, doch wie sich die Asche des Vesuvs über die Hochkultur Pompejis legte, wird Italiens einst große Film-, Musik- und Intellektuellenkultur von Fernsehpüppchen, Fussballgewalt und faschistischen Parteien zerstört. Damals war Italien in Aufruhr. Bürgerliche und faschistische Killerkommandos bekämpften eine kommunistische Partei mit fast 50% Wähleranteil und revoltierende Studenten, die neue Lebensformen ausprobierten. Zu diesen komplexen Wirrungen der Gesellschaft lieferten unzählige progressive Bands quasi den Soundtrack.
Bekannt ist der Italian ProgRock zwar eher für seine softe Tendenz, die man bei ihren bekannten Vertretern wie Premiata Forneria Marconi (PFM), Banco del Mutuo Soccorso (BMS) oder Le Orme hört, doch der Eindruck täuscht. Es gab Bands mit harten Riffs, Bands, die sich musikalisch in die Weiten des Weltalls katapultierten, und Bands, die Musikstile fusionierten, an deren Vereinigung kein musikaffines Wesen denken würde.
Goblin
Goblin ist die bekannteste italienische Prog-Band, die sich mit der musikalischen Untermalung von Filmen befasst hat. Wobei Untermalung bei Goblin defintiv eine falsche Beschreibung ist. Goblins Filmmusik ist äußerst präsent. Was Dario Argento bei den Ennio-Morricone-Soundtracks seiner frühen Filme immer mehr zu vermissen anfing, wo er sich von Morricone unverstanden fühlte, das suchte er fortan in der Rockmusik. Bereits für VIER FLIEGEN AUF GRAUEM SAMT hätte er sich statt Morricone Deep Purple als Band für den Soundtrack gewünscht. Für seinen 1975 entstandenen Film PROFONDO ROSSO nahm er vorab mit Pink Floyd Kontakt auf.
Parallel dazu ließ er bereits den Jazzmusiker Giorgio Gaslini Musik komponieren. Doch mit zunehmender Zusammenarbeit fühlte er sich immer weniger wohl und suchte verzweifelt nach anderen Bands und Musiken, ließ sich von Freunden beraten und stolperte eines Nachts über ein Demotape von Goblin. „It was clear they all attended music conservatories and hadn’t just learnt how to play the guitar at home. I spoke with Claudio Simonetti about the group’s possible musical involvement in the film and two great compositions arrived the next day.“ (Zitat: Alan Jones: „Dario Argento. The Man, the Myths & the Magic“, S. 65)
Goblin entstand aus der Band Oliver, die 1973 von Claudio Simonetti und Massimo Morante gegründet wurde. Sie nahmen einige Songs als Demos auf und gingen ins stets hippe London, wo sie Kontakt mit Eddy Offord aufnahmen. Offord war der Superstar unter den ProgRock-Produzenten und derart begehrt, dass er die beiden Big Shots der Szene, die Supergruppen Yes und Emerson, Lake & Palmer parallel betreute. Und das nicht nur von London aus, sondern auch auf ihren immer gigantischer werdenden Tourneen (als das nicht mehr aneinander vorbei ging, entschied er sich für Yes). Nachdem sich Offord Olivers Demotapes angehört hatte, erklärte er sich bereit, ihr Album zu produzieren.
Doch zu früh gefreut. Als sie nach London zurückkamen, war Offord gerade mit Yes auf Tournee und konnte sich der aufstrebenden Band nicht mehr annehmen. Dank Claudio Simonettis Vater erhielt die Band trotzdem einen Plattenvertrag, nahm ein Album unter dem neuen Bandnamen Cherry Five auf.
Trotzdem brauchte Argento noch ein wenig Überzeugungsarbeit. Er wollte angeblich erst nur, dass die Band Gaslinis Kompositionen umsetzte – nach einiger Zeit jedoch überzeugte er Gaslini vom Gegenteil und bat ihn den Film nicht fertig zu komponieren. In der Folge ließ Argento die Band, die sich inzwischen in Goblin umbenannt hatte, die Hauptthemen komponieren und spielen.
Leider trennten sich in den Jahren 1978/79 zwei treibende Kräfte von Goblin: Massimo Morante strebte eine Solokarriere an und Claudio Simonetti begann damit, Italo Disco zu fabrizieren und produzieren. Während Morantes typische Eighties Rockmusik trotz Zusammenarbeit mit dem italienischen Glamrock-Star und Über-Cantautore Renato Zero (Album: „Corpo a Corpo“) musikalisch eher belanglos und nicht sonderlich erfolgreich war, konnte Simonetti tatsächlich kommerzielle Erfolge erzielen. Seine Keyboardkünste passten bestens in die Synth-Ära der späten Siebziger und frühen Achtziger. Und Italo Disco war der heiße Scheiß in Italien, in seiner Simplizität das totale Gegenteil zum ProgRock und prägend für die Entwicklung einer selbstbewussten Schwulen-Clubmusik (definitiv ist Italo Disco ein Vorläufer von HiEnergy). Zusammen mit dem Produzenten Giancarlo Meo produzierte er die Band „Easy Going“ (benannt nach dem gleichnamigen römischen Schwulenclub) und reüssierte mit dem überaus kommerziellen „Baby I love you“ (1978). Schon früh war Italo Disco etwas „italienischer“ und „direkter“ als die damals noch verklausulierteren, coolen US-Disco-Pendants, erkennbar in Titeln wie „Gay time latin lover“ oder „I strip you“. Etwas origineller war die Zusammenarbeit von Simonetti und Meo für Vivan Vee. Europäische Discomusik im Stil des „Munich Sounds“ von Giorgio Moroder. Wer auf die etwas romantischere Art elektronischer Discomusik steht, sollte sich Vivien Vee beschaffen (aus der Simonetti/Meo-Phase). Ihr Song „Remember“ fand sich übrigens auf dem THE WARRIORS-Soundtrack (1979).
Für Filmsoundtracks gab es ab 1982 Wiedervereinigungen von Goblin unter unterschiedlichen Namen – so schaffte es Argento zum Beispiel 1982, Simonetti, Morante und Urmitglied Fabio Pignatelli unter deren Nachnamen für den Soundtrack von TENEBRAE zusammen zu bringen. Relevante Nicht-Soundtrack-Alben von Goblin erschienen in den Achtzigern jedoch keine mehr.
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