Rotterdam in den Zeiten der Pandemie war alles andere als ein idealer Einstieg für die neue Festivaldirektorin Vanja Kaludjercic. Mit ihrem ambitionierten Programm, das erwartungsgemäß nicht nur politischer, sondern auch deutlich feministischer ausfiel – schon durch die größere Auswahl an Filmen von Frauen – blieb ihr nur der Weg in ausgedünnte Kinosäle und selbst das nur in Ausnahmefällen. So musste der im Februar terminierte größte Teil des Programms online stattfinden. Um wenigstens ein wenig Normalität zu erhalten, reichte man im Juli ein kleines Präsenzfestival nach. Doch die Intensität einer 10tägigen zusammenhängenden Präsentation von Filmen von morgens bis tief in die Nacht wollte sich nicht einstellen, waren es doch gerade die den Vorführungen nachfolgenden Diskussionen in Kinofoyers, Cafés, Clubs und Bars, die immer schon einen wesentlichen Teil der Filmwürdigung und damit der auf Film fokussierten Atmosphäre in der südholländischen Metropole ausmachten.
Das ist umso bedauerlicher, denn eigentlich hätte 2021 ein Jahr zum Feiern für eines der schönsten, weil entspanntesten Filmfestivals überhaupt sein müssen – schließlich beging man in diesem Jahr sein 50jähriges Bestehen. Große Feierlichkeiten blieben den Umständen geschuldet leider aus und auch der internationalen Presse nur die Privatissime-Pressevorführungen auf dem heimischen Bildschirm. Immerhin konnte man trotz der Reduzierung der Filmanzahl auf ein Drittel im Vergleich zur Präsenzausgabe des vorherigen Jahres mit dem Streamingangebot das nationale Interesse um mehr als 30% erhöhen. Dennoch hätte man den Gewinner des Publikumspreises – Jasmina Žbanićs erschütternden QUO VADIS AIDA? über das Massaker von Screbrenica und das jüngst über Afghanistan wieder in das Blickfeld gerückte Versagen internationaler Politik – gerne auf großer Leinwand gesehen. Und es sind Produktionen wie Dea Kulumbegashvilis grandioses Porträt der patriarchischen Gesellschaftsstrukturen im ländlichen Georgien BEGINNING, die subtil über ruhige Einstellungen ein fast unerträgliches Maß an Unwohlsein entfalten. Das kann in Perfektion nur in einem Kinosaal gelingen, wo kein Pausenknopf mit seiner Verheißung auf einen Ausweg Erleichterung zu verschaffen vermag.
Insgesamt hätte man sich fast ein wenig gewünscht, das nicht gefühlt jeder Film unbedingt einen Kommentar zur aktuellen gesellschaftlichen Situation liefern musste und stattdessen einfach nur mal unterhalten wollte. Aber dafür gab es ja mit RIDERS OF JUSTICE den neuen Film von Anders Thomas Jensen als Eröffnungsevent. Obwohl fünf Jahre seit seinem letzten Film MEN & CHICKEN, und ganze fünfzehn seit seinem Meisterwerk ADAMS ÄPFEL vergangen sind, bleibt der Eindruck, dass sich das Jensensche Universum kaum verändert hat – wieder haben markante, skurrile Männercharaktere mit ihren ganz eigenen Problemen zu kämpfen. Und auch die sich bildenden Männerfreundschaften stehen in der Tradition der typischen Beziehungskonstellationen in Jensens Schaffen, die bis zu seinem Debütlangfilm FLICKERING LIGHTS zurückreichen. Doch das ist hier keinesfalls negativ zu verstehen, denn RIDERS OF JUSTICE ist für den geneigten Zuschauer ein wenig wie Nachhausekommen – was schon dadurch gegeben ist, dass mit Mads Mikkelsen, Nikolaj Lie Kaas und Nicolas Bro wieder viele altbekannte Gesichter zur Verfügung standen. Sehr schön auch, dass die Tragikomödie erfolgreich jede politische Korrektheit umschifft und angenehm schwarz daherkommt. Das die Geschehnisse ins Rollen bringende Ereignis ist dann zunächst auch alles andere als lustig, als bei einem Unfall in der Kopenhagener U-Bahn etliche Passagiere ums Leben kommen. Statistiker Otto, der bei dem Unglück nur knapp mit dem Leben davonkommt, weil er mit einer Frau seinen Sitzplatz getauscht hat, wird von Schuldgefühlen geplagt. Bei der Sichtung der Kameraaufzeichnung aus dem Inneren des Waggons wähnt er sich den Hintergründen des Ereignisses auf der Spur. Als Experte für Wahrscheinlichkeiten wird ihm schnell klar, dass der vermeintliche Unfall kein Zufall gewesen sein kann. Nachdem seine Hinweise auf die titelgebende Bikergang „Riders of Justice“ bei der hiesigen Polizei eher auf Desinteresse stoßen, wendet er sich an Markus, den Ehemann der verstorbenen Frau, deren heranwachsende Tochter das Unglück ebenfalls knapp überlebt hat.
Mads Mikkelsen als gerade von einem Auslandseinsatz zurückgekehrter Soldat und frischer Witwer hat bald darauf nur noch das Verlangen nach Rache. Dieser neue Impuls erweckt in dem nihilistischen, tief traumatisierten Mann neue Energien – Energien, die sich in den Gesprächen mit seiner pubertierenden Tochter eher nicht entfalten wollen. Pubertät und Traumatisierung sind schlechte Voraussetzungen, wenn es darum geht, eine tiefergehende Vater-Tochter-Beziehung aufzubauen.
Bald zieht Otto mit seinen Wissenschaftskumpels Lennart und Emmenthaler in die Scheune des Soldaten ein, um über Datamining die Gewohnheiten der Riders auszukundschaften. Langes Zaudern ist Markus Sache nicht und so werden die drei Nerds immer mehr in die Aktivitäten des Rächers hineingezogen und spätestens beim Schießtraining moralische Bedenken beiseitegelegt. Die erste Leiche lässt dann auch nicht lange auf sich warten.
Auch wenn er thematisch eigentlich das Zeug dazu hätte, ist RIDERS OF JUSTICE jedoch nur am Rande ein Rachethriller, denn der Schwerpunkt von Jensens neuer Regiearbeit liegt weniger in der vordergründigen Handlung, sondern eher im Beziehungsgeflecht der Charaktere. Das entbehrt trotz aller Komik und den manchmal auch übertriebenen Albernheiten nicht der Sympathie für die skurrilen Figuren, die alle ihre ganz eigenen Traumata mit sich herumtragen. Und das macht auch den Film selbst einfach sympathisch. Da verzeiht man ihm gerne, dass er mit der Entscheidung für Computer- und Forschernerds als neurotische Protagonistentruppe die nicht gerade originellste Wahl getroffen hat und auch der gegen die politische Korrektheit gebürstete Humor schon mal schärfer war. RIDERS ist eben kein ADAMS ÄPFEL. Dass die Mischung aus Thriller, Komödie und Drama dennoch funktioniert, liegt nicht zuletzt auch an Mads Mikkelsen, der dem verhärteten Soldaten ein Gesicht gibt, in dem sich alle widersprüchlichen Gefühle überzeugend und ergreifend spiegeln – das gelingt ihm gerade wegen der Komplexität der Figur noch eindrucksvoller als sein Lehrer in Vinterbergs preisgekröntem DER RAUSCH. RIDERS erzählt im Kern eine sehr reduzierte, intime Geschichte über Trauerbewältigung und die Unfähigkeit zum Dialog – diese ruhigen, ergreifenden Passagen sind das Überraschendste an Jensens neuem Film: Entledigt man RIDERS OF JUSTICE seiner populären, massenkompatiblen Komponenten bleibt ein erstaunlich ernster und trauriger Hintergrund, und damit passt der Film dann auch wieder nach Rotterdam in einem Jahr, in dem so gar nicht nach Feiern zumute war. RIDERS OF JUSTICE kommt am 23. September in die deutschen Kinos.
Retfærdighedens ryttere, Dänemark/Schweden/Finnland 2020 | Regie, Drehbuch: Anders Thomas Jensen | Kamera: Kasper Tuxen | Musik: Jeppe Kaas | Darsteller: Mads Mikkelsen, Nikolaj Lie Kaas, Nils Bro, Lars Brygmann, Andrea Heick Gadeberg u.v.a. | Laufzeit: 115 min.