This world is big enough for both of them.

Es scheint kein Zufall zu sein, dass in den letzten Jahren immer mehr große und coole Regisseure Musikdokumentationen über Bands aus der Vergangenheit der Popmusik gemacht haben. Sie fangen die letzten Momente einer Vergangenheit ein, die sie selbst geprägt hat und die der Populärkultur unvorstellbar große Innovationsschübe bereiteten. Das mag nicht überraschen, leben wir doch in einer Zeit, in der selbst Namen wie die Beatles ob einer völlig neuen Musikkultur und Sozialer Medien langsam in Vergessenheit zu geraten drohen (siehe Danny Boyles YESTERDAY). „Damals“ bedeutete Musik für viele Teenager das Tor zu sich selbst und zur Welt. Eine Band wie die Beatles oder die Sex Pistols (stellvertretend für so viele andere Interpret*innen und Bands) konnte individuelle Leben verändern, während Musik heute eher in Trackformaten als in Bandformaten rezipiert wird.
Während sich zwei ganz große Regisseure in den letzten Jahren der Mutter aller Popbands, der Beatles, angenommen haben – Ron Howard mit EIGHT DAYS A WEEK/THE TOURING YEARS (2016) und Peter Jackson mit GET BACK (2021) -, widmeten sich eher independent-„coole“ Regisseure den Bands und Interpreten, die extrem innovativ und eher unter der Oberfläche pophistorisch wichtig sind. Jim Jarmusch begann den Reigen mit GIMME DANGER (2016) über Iggy and the Stooges, die mit ihrem monotonen, lärmigen Sound Ende der Sechziger und Iggys körperlicher Radikalität unglaublich einflussreich bis weit in die Punk-Bewegung und danach waren, zu denen es aber kaum Live-Material gibt. Dasselbe gilt für die aktuelle Dokumentation THE VELVET UNDERGROUND (2020) von Todd Haynes. Es gibt kaum Filmmaterial über die Band um Lou Reed und John Cale, aber das wenige, das da war, „wurde von Andy Warhol gefilmt und war dementsprechend von höchster künstlerischer Qualität“ (wie Todd Haynes beim Zürich Film Festival erklärte). Neben Haynes’ Film lief auch THE SPARKS BROTHERS (2020) von Edgar Wright über die unglaubliche Popband Sparks am ZFF – eine ebenfalls längst überfällige Würdigung. (Anzumerken ist noch, dass der ebenfalls unter „Old Cool“ fungierende Regisseur Julien Temple mit SHANE (2020) eine Art Biographie des Pogues-Sängers Shane McGowan gerade aktuell herausbrachte – hier geht es allerdings nicht um ein musikalisch wegweisendes Projekt, sondern – etwas altertümlicher – um das Portrait eines selbstzerstörerischen Rockmusikers.)

Populäre Musik ist eines von Todd Haynes’ zentralen Themen. Mit VELVET GOLDMINE (1998) legte er eine unglaublich gute und spannende Deutung von David Bowies Häutung(en) vom Glam Star bis hin zum blonden Mainstream-Entertainer vor und mit I’M NOT THERE (2007) fächerte er Bob Dylan auf 5 Persönlichkeiten auf. In seiner Dokumentation zu THE VELVET UNDERGROUND geht es ihm nicht um die Interpretation der mythischen Band, sondern um die Einbettung in den persönlichen und den historischen Kontext. Und das macht er, indem er vor allem einen „New Yorker Groove“ in die Bildsprache bringt: Split Screens (und Multiscreens) dominieren das Geschehen auf der Leinwand, wie wir es aus Sixtiesfilmen kennen (z.B. der WOODSTOCK-Doku) und wie sie vor allem Andy Warhol gern benutzte. Der Rest ist (die) Geschichte. Die Hintergründe der beiden genialen Köpfe der Band wird parallel erzählt. Lou Reed und John Cale. Reed, der als homosexueller Teenager mit Elektroschocks behandelt wurde und sich intensiv mit Lyrik auseinandersetzte. So revolutionierte er das Genre der Songtexte, indem er das körperliche Sein mit der Welt in Bezug setzte (Poptheoretiker Diedrich Diederichsen verglich ihn einst mit Schiller, in Gegenüberstellung zum anderen Lyrikrevolutionär Bob Dylan, der eher Goethe entspräche). Vor allem aber spielte Reed schon sehr früh in Beatbands. Demgegenüber entdeckte John Cale aus Wales mit seiner klassischen Musikausbildung in den USA die ungestüme moderne Klassik von John Cage und vor allem von La Monte Young, dem er sich anschloss. La Monte Young beschäftigte sich z.B. damit, einen Ton vier Stunden lang zu halten – war quasi der Erfinder dessen, was man heute Drone Music nennt. Das passierte zur gleichen Zeit, als Andy Warhol Filme wie EMPIRE (1964) machte, den achtstündigen Schwarzweißfilm, der in statischer Einstellung das Empire State Building zeigte. In beiden Kunstformen erhält die Zeit eine neue Bedeutung, wird die Zeit eigentlich gedehnt. Cale, Reed und Warhol, das ergab eine unglaubliche Mischung! Und ein Song wie „Venus in Furs“ verdeutlicht, wie Drone Music genauso wie so physische Themen wie Sadomasochismus erstmals Einzug in die Rockmusik hielten. Velvet Underground waren derart anders, dass weder Andy Warhols Jet-Set-Klientel sie mochten noch die coolen Westcoast-Bands in Los Angeles und San Francisco. Der Konzerttrip nach Kalifornien wurde zum völligen Misserfolg. „We hated hippies.“ Lediglich Warhol selbst blieb der Band stets treu und unterstützte sie.

Bis das deutsche Model Nico die Band verließ, später John Cale von Lou Reed rausgeschmissen wurde und Reed die Band ganz aufgab dauerte es nur wenige Jahre – die Bandgeschichte wird vor allem durch die anderen MitstreiterInnen Mo Tucker (Drums) und Sterling Morrison (Gitarre) sowie später Doug Yule (Gitarre) nacherzählt. In the End gibt der Film aber auf eigenwillige und doch verständliche Art wieder, was The Velvet Underground waren: ein kurzer, heftiger Innovationsschub in der Geschichte der Popmusik mit einem sehr langen Schatten.

Bei THE SPARKS BROTHERS geht es ausschließlich um zwei Personen, die beiden Brüder Ron und Russell Mael. Mit Edgar Wright (SHAUN OF THE DEAD, HOT FUZZ, BABY DRIVER) kümmert sich auch der richtige Regisseur um die beiden, die seit rund 50 Jahren eine großartige, eigenwillige Art von Humor mit höchster musikalischer Qualität verbinden. Da die Mael-Brüder nicht eine große, quasi musikhistorisch relevante Geschichte wie Velvet Underground im Rücken haben, geht Wright in zweieinhalb Stunden chronologisch Album für Album durch. Das hat selbst für große Fans wie mich manchmal etwas Ermüdendes, verliert aber nicht die Faszination eines Duos aus den Augen, das sich (immer noch) permanent neu erfindet und gleichzeitig stringent bleibt, was Musikalität und Humor betrifft. Illustriert wird das gleich am Anfang mit Verweis auf Russell Maels frühen Kurzfilm an der Kunstschule in Los Angeles in den späten 1960er Jahren, in dem er sich liebevoll, aber direkt über die Vergötterung von französischen Nouvelle-Vague-Filmen lustig machte und dem über 50 Jahre späteren Song „When you’re a french director“, in dem die Mael-Brüder sich dasselbe Thema noch einmal vorknöpfen – featuring Leos Carax (der in Cannes den gemeinsamen Film ANNETTE (2021) vorstellte): „When you’re a French director, you’re an auteur as well / What does that mean? / Every scene must be obscure as hell.“

Wright geht einen sehr eigenen, humorvollen Weg, um das relativ limitierte Genre der Musikdokumentation anzureichern. Mit viel Witz wird kommentiert und Visuelles eingestreut, um sich dem Thema Sparks adäquat zu nähern. Und während immer wieder Musikgrößen wie etwa Beck, Flea, Thurston Moore oder Nick Rhodes über die Bedeutung von Sparks Aussagen machen, nehmen sich die Mael-Brüder derweil selbst auf die Schippe. Den Rest erledigen die alten Aufnahmen mit all ihrem Charme und Witz aus nunmehr fünf Jahrzehnten – so lange existieren die Sparks bereits.

Nach den ersten beiden Alben erreichte ihr Großerfolg „This Town ain’t big Enough for the Both of Us“ (1974) mit seiner irrwitzigen Melodie die Musikwelt völlig überraschend und unvorbereitet. Glamrock, aber witzig und ganz anders? Oder eine Ironisierung von Glam? Die Kiefer fielen den Zuschauern und -hörern nicht nur zu Tausenden ob der verrückten Musik weit herunter, sondern auch wegen dieses seltsam altmodischen Typen am Keyboard mit dem Hitlerschnauz! Glamrock mit Hitlerschnäuzchen? England stand Kopf, ihr Nazihass und ihre Nazifaszination hatten ein Bild gefunden, das alles irgendwie transzendierte.

Weiter führte die irre Schaffensreise der Sparks über die kongeniale Zusammenarbeit Ende der Siebziger mit Giorgio Moroder und daraus resultierend einem der besten elektronischen Discoalben (“No. 1 in Heaven”, 1979), gefolgt in den Achtzigern von einer amüsanten Synthpopphase und dem US-Großerfolg „Cool Places“ mit Jane Wiedling und – nach sechs dürren Jahren ohne Plattenvertrag – die große Rückkehr mit dem Song „When do I get to sing ‘My way’“ (1994). Weitere Highlights wie die Zusammenarbeit mit Franz Ferdinand unter dem Bandnamen FFS, einem Hörspiel/Musical über Ingmar Bergman und dem erwähnten Eröffnungsfilm der Filmfestspiele in Cannes, ANNETTE, belegen, wie sie auch in den letzten beiden Jahrzehnten unabhängig, eigenwillig und relevant blieben. Wer Sparks nicht kennt, wird sie mit THE SPARKS BROTHERS lieben lernen. Obwohl die Doku, im Gegensatz zu Todd Haynes’ Doku, insofern an der Oberfläche bleibt, als dass sie sich kaum um die Inhalte der Sparks-Songs kümmert, niemals um die musikalische Relevanz, niemals um die gesellschaftliche Wirkung, niemals um die musikalischen Strategien (die bei den Sparks eben so viel anders sind als bei „humorvoller Musik“). Selbst ein Poptheoretiker wie Paul Morley (britischer Popjournalist, der mit Trevor Horn ZTT gründete und Frankie goes to Hollywood groß herausbrachte) hat einen viel zu kurzen Redebeitrag, um das Phänomen wenigstens ansatzweise zu erklären. Das ist zwar schade – doch unterhaltsam bleibt der Film.

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The Velvet Underground, USA 2021 | Regie: Todd Haynes | Mit John Cale, Maureen Tucker u.a. | Laufzeit:110 min.

The Sparks Brothers, UK / USA 2021 | Regie: Edgar Wright | Mit Ron Mael, Russell Mael, Beck, Flea, Steve Jones, Vince Clarke, Thurston Moore, Giorgio Moroder, Tony Visconti, Mike Myers, Paul Morley u.a. | Laufzeit: 140 min.