“I’m going there to see my father / and all my loved ones who’ve gone on / I’m just going over Jordan / I’m just going over home.” Der traurige amerikanische Folksong über die Heimkehr und Vereinigung von Eltern und Kind im Tod, „Wayfaring Stranger“, läuft in der ersten Szene von TITANE im Autoradio, gerade, als der über die Tochter verärgerte Papa einen folgenschweren Unfall baut. Das kleine Mädchen muss sich eine Titanplatte in den Schädel einsetzen lassen, gleich neben dem Ohr, und ist überdies traumatisiert für den Rest ihres Lebens. Ihre Autobesessenheit bleibt allerdings: Rund 20 Jahre später mausert sie sich zu einer Starstripperin in einer seltsamen Autofetisch-Subkulturszene.
Julia Ducournaus TITANE ist in der Folge nichts für schwache Nerven. Im Film, der 2021 die Goldene Palme erhielt, bleibt sozusagen alles unberechenbar bis zum Ende. Dramaturgisch gesehen ist das die unglaubliche Stärke des Films: Die Hauptperson Alexia (Agathe Rousselle) ist psychisch derart schwer einzuschätzen und ihre Reaktionen sind teilweise derart gewalttätig, dass praktisch jede Szene offen ist für jede mögliche Wendung. Trotzdem erhalten die Zuschauer nicht das Gefühl, dass Alexia ein Hirnkonstrukt der Regisseurin ist (die gleichzeitig auch für das Drehbuch verantwortlich zeigt).
Als Alexia von einem Fan bedrängt wird, der auf fordernde Art mehr als nur ein Autogramm will, tötet sie ihn während seines erzwungenen Zungenkusses mit einer Haarnadel. Daraufhin betritt sie in einer quasi religiösen Szene die nächtliche, leere Halle mit dem gepimpten Lowrider-Cadillac, sitzt auf dem Rücksitz (wo sie auch beim Unfall als Kind saß), befestigt ihre Arme an den Sicherheitsgurten und lässt den Wagen heftig hüpfen. Von dieser „Sexszene“ wird sie schwanger, blutet später auch eine ölähnliche, schwarze Flüssigkeit. Spätestens hier denken wir alle an David Cronenbergs CRASH, der natürlich als Inspiration für Ducournau gelten darf. Mit dem pikanten Detail, dass TITANE 2021 die Goldene Palme erhielt, die 1996 CRASH (angeblich auf starke Intervention von Jurypräsident Francis Ford Coppola) nicht zugestanden wurde. Es gibt im Anfangsteil von Ducournaus Film tatsächlich einiges, das der Film mit CRASH gemein hat, zuvorderst natürlich der extreme Autofetischismus, die Ersetzung organischer Körperteile durch metallene und die seltsame Erotik, die der Film dadurch aufbaut. In TITANE sind das wichtige Psychologisierungselemente, während CRASH die Transzendenz des Körperlichen thematisiert. Die als Kind durch das Auto verletzte Alexia hat gelernt, das Auto zu lieben.
Nun beginnt ein kurzes Intermezzo mit One-Night-Stands und Morden, gefolgt von einer pyromanischen Besessenheit, die Spuren zu vernichten. Es scheint, als könne Alexia Beziehungen eher zu Autos aufbauen als zu Menschen – vor allem auch, wenn es um Sex geht. Alexia legt Feuer und brennt das Haus einer ganzen (sexuell liberalen) WG nieder.
Sie weiss, dass sie ab jetzt von der Polizei schnell erwischt würde und hat eine überraschende Idee, der Verfolgung zu entkommen. Sie gibt sich für den jahrzehntelang vermissten Buben Adrien aus, nachdem der einmal mehr über die Medien gesucht wird – und wird tatsächlich von dessen Vater akzeptiert. Auch hier wieder: Wie sie ihre Brüste zusammenbindet, wie sie die Haare rasiert rund um die Titanplatte und vor allem, wie sie sich auf einer öffentlichen Toilette die Nase bricht, ist sehr verstörend anzusehen und wird selbst hartgesottene Zuschauer schmerzen. So lässt sich TITANE natürlich zum Kino der „New French Extremity“ zählen (amüsanterweise in diesem Zusammenhang: Alexias richtiger Filmvater wird von Bertrand Bonello gespielt).
Ihr neuer Vater Vincent (dargestellt vom französischen Urgestein Vincent Lindon) ist ein gutherziger Mann, der aber selbst Aussetzer hat und sich Hormonspritzen setzt. Er braucht die Muskelpakete, um von seinen „Leuten“ akzeptiert zu werden: Vincent leitet eine Feuerwehrabteilung mit jungen Männern. Als er Adrien/Alexia ins Team integriert, was sich nicht einfach gestaltet, landet er/sie wieder in einer Männerwelt. Aber aus der Feuerlegerin wird nun eine Feuerlöscherin. Darum gehts. So wie der aufgepumpte, alte Mann seinen stummen Sohn liebt, beginnt auch Adrien/Alexia den alten Herrn zu lieben. Ganz nach dem Motto:
Liebe ist …
“… full acceptance of the human being in front of you, no matter the gender, no matter the social construct.” (Julia Ducournau)
Der Titel „Titane“ ist natürlich auch doppeldeutig: Von der Frau mit dem Titanimplantat wird sie in gewisser Weise zur Titanin. Heldin grenzüberschreitender Liebe.
Die Farben werden im Verlauf des Films weicher, violetter. Tanzszenen der Feuerwehrcrew werden in Zeitlupe gefilmt. Überhaupt spielen Tanz und Musik eine wichtige Rolle in TITANE. Als Vincent zuhause tanzt und Adrien mitmacht, läuft „She’s not there“. Alexia verschwindet aus dem Bewusstsein, die Kunstfigur Adrien entpuppt sich als der genauso wahre Mensch. Doch Gender ist fluid bei Adrien/Alexia, Annäherung und Gefahr sind nahe beieinander. Weil sich Alexia nicht verraten will, spricht sie nicht als Adrien – ihr Stummsein macht den Film umso verstörender.
Titane
Frankreich / Belgien 2021
Regie, Drehbuch: Julia Ducournau
Kamera: Ruben Impens
Musik: Jim Williams
Darsteller: Agathe Rousselle, Vincent Lindon, Laïs Salameh, Garance Marillier, Dominique Frot, Bertrand Bonello u.a.
Laufzeit: 108 min.