1966 ist der Vietnamkrieg in vollem Gang. Nach dem US-Kriegseintritt 1964, der mit der Lüge über den Tonkin-Zwischenfall begann, und den heftigen Bombardierungen Nordvietnams, waren die USA plötzlich nicht mehr jedermanns Darling im Westen und – wie wir wissen – selbst in den USA bildete sich eine große Opposition gegen die Kriegspolitik von Präsident Johnson. Das hat alles nicht direkt mit dem Spionagefilm THE VENETIAN AFFAIR (deutscher Titel: MITTERNACHT – CANALE GRANDE) zu tun, erklärt aber den Konflikt, den der Film austrägt. Denn der Film beginnt mit einem Gipfeltreffen der größten Wirtschaftsmächte in Venedig, in dem ein gemeinsamer Abrüstungsplan für Atomwaffen auf die Reihe gebracht werden soll. An dieser Friedenskonferenz explodiert jedoch eine Bombe – und 13 hochrangige Diplomaten sterben. Angeblich ausgerechnet vom US-Vertreter (ebenfalls tot) gelegt, vermutlich im Auftrag der Regierung. Die USA also die Bösen – das Image der guten, Demokratie verheißenden Großmacht ist angeschlagen.
Aber es kann nicht sein, was nicht sein darf. US-Journalist Bill Fenner (Robert Vaughn, zu jener Zeit als einer der Männer von U.N.C.L.E. bereits als TV-Agent unterwegs) soll den Fall untersuchen und die USA allenfalls freisprechen. Im Gegensatz zu Filmen wie MAN FROM U.N.C.L.E. oder den in jener Zeit so populären James-Bond-Verschnitten haben wir es hier allerdings mit einem sehr stilvollen, die Paranoia der politischen Situation abbildenden Spionagefilm zu tun.
Bereits die Eingangsszene ist wunderbar gestaltet. Venedig, der leere Markusplatz. Ein Mann liest Zeitung, ein anderer Mann holt ihn ab. Sie gehen durch Arkaden, in deren Vordergrund sich hunderte Tauben aufhalten und gurren, bis zum Glockenschlag des Markusdoms, der bereits etwas Morbides verkündet. Die beiden steigen in ein Motorboot und die geheimnisvoll swingende Titelmusik von Lalo Schifrin setzt ein. Objekte, Agenda, Kugelschreiber, Feuerzeug und andere Dinge werden in Close-ups ausgetauscht. Was hat dieser freundliche, geheimnisvolle Herr mit unserem US-Diplomaten zu tun?
Das Problem mit den USA klingt damals bereits an: Es existieren unterschiedliche Kräfte innerhalb der Undercover Dienste. Bill Fenner arbeitet nicht mehr für die CIA und hat mit dem örtlichen CIA-Chef Frank Rosenfeld (Ed Asner) das Heu nicht auf der gleichen Bühne. Rosenfeld: “Why didn’t Vaugirod contact me in the first place?” Fenner: “Because he contacted me.” Jeder hat seine Connections, und Fenner hat die besseren. Zum Beispiel zum alten Geheimdienstler Dr. Vaugirod (Boris Karloff), der ersten mehrerer geheimnisumwitterter Personen, welche die Story zu einem Labyrinth der Wahrheitssuche machen. THE VENETIAN AFFAIR ist einer jener Sixties-Agentenfilme, bei denen die Wahrheit nicht für jeden Idioten verständlich herumliegt.
Dr. Vaugirod hat Informationen für die Amerikaner und deutet an, dass der verhängnisvolle Anschlag von anderer Seite geplant wurde. Doch Rosenfeld und Fenner finden erst einmal Vaugirods Bodyguards erhängt in dunklen Gewölben auf. Viele Szenen spielen in der Nacht, in dunklen Gewölben, nächtlichen Wohnungen, Enge. Selten sieht man ein offenes, großzügiges Venedig – und wenn, dann ist es menschenleer oder die Menschen gehen seltsam fremd umher. Auch das Venedig der Kanäle bzw. des Wassers wird kaum ausgekostet, ebensowenig wie das Venedig der Todessehnsucht (wie in TOD IN VENEDIG und DON’T LOOK NOW). Hier dienen die Ruhe, bzw. die musikalischen Stimmungen von Schifrin, dazu, das Geheimnisvolle zu unterstreichen.
Venedig ist ein Labyrinth. Das ist die topografische Parallele zum Filmtopos. Und das macht aus THE VENETIAN AFFAIR einen dieser Noir Spy Movies wie etwa QUILLER MEMORANDUM oder die Harry-Palmer-Filme. Kippte die Realität in THE IPCRESS FILE stets in die Schräge, so ist sie hier im Labyrinth der Beziehungen und Geflechte nicht mehr auffindbar. Wie in THE IPCRESS FILE wacht auch in THE VENETIAN AFFAIR unsere Hauptperson einmal in einem Folterraum auf, nicht wissend, wo wie was mit ihm geschieht. Auch hier geht’s um experimentell-medikamentöse Manipulation und totalen Realitätsverlust. In diesem Fall mit dem Katzenexperiment: Einer Katze wird etwas gespritzt, das in ihr unglaubliche Angst verursacht. Lieber bringt sie sich um, als mit einer Maus im gleichen Käfig zu sein. Dann landet die Maus in Fenners Gummizelle…
Frauenbeziehungen sind nicht funktional wie bei Bond & Co. – wo Frauen immer entspannt offen sind: Leichte Beute, weil sie entweder naiv oder hinterhältig (mit einer hidden agenda) agieren. In THE VENETIAN AFFAIR dagegen haben die Frauen eine Geschichte und Sex hat einen Hintergrund. Die Beraterin des vermeintlichen Bombenleger-Diplomaten Prentiss, Claire (Felicia Farr), meint, sie wolle lieber zuhause bleiben, als Fenner sie noch zum Ausgehen motivieren will. Sie trinken in ihrer Wohnung. Sie muss immer noch das Attentat verdauen. Weil er ihre Situation empathisch nachvollziehen kann, gehen sie schließlich zusammen ins Bett. Ähnlich mit Fenners Ex-Frau Sandra (Elke Sommer): schwierig, vor drei Jahren getrennt, weil sie ihrer Liebe gegenseitig misstrauten. Später sagt Sandra zu Fenner, ihre Leben sei vorbei: „It’s all over.“ – „Why?“ – „Fear.“ Auch nach diesem bestürzenden Dialog kommt es zum Geschlechtsverkehr. Beide Male handelt es sich um Sex mit sehr melancholischer Note.
Die Spur gilt bald einmal erwähnter Sandra Fane, die Kontakt zu Prentiss hatte. Fenner inspiziert das Zimmer seiner Ex, bevor wir sie überhaupt sehen. Später entdeckt er sie in einem Kloster. Eine sehr sanfte Elke Sommer, in einer Szene der romantischen Erinnerung. Die schnell kippt, denn Fenner geht sie direkt an – trotzdem haben die beiden eine Vertrautheit. Über sie kommt Robert Wahl (Karlheinz Böhm, als „Karl Boehm“ gecredited) ins Spiel. Wahl („Robert Wahl. He buys and sells power.“) möchte Sandra Fane, die als kommunistische Überläuferin gilt und die er an Geheimdienste weiterverkaufen könnte. Das ist der Moment, in dem sich Fenner für seine Ex-Frau und (weiterhin) gegen die Geheimdienstwelt entscheidet, die inzwischen doch einige Leichen angehäuft hat. Doch das Labyrinth des Untergrunds ist zu komplex, um mit einer derart einfachen Lösung davon zu kommen.
THE VENETIAN AFFAIR ist ein von der Kritik oft unterschätzter Film, weil – zugegeben – der Story nicht ganz einfach zu folgen ist. Tut man das jedoch, oder sieht man sich den Film einfach ein zweites Mal an, dann gerät man durchaus in den Sog des Undurchsichtigen und nie Durchschaubaren. Wahrheit und Wirklichkeit konstituieren sich immer wieder neu – das macht den Film auch heute noch (post)modern.
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The Venetian Affair, USA 1966 | Regie: Jerry Thorpe | Drehbuch: E. Jack Neuman, nach einem Roman von Helen MacInnes | Kamera: Milton Krasner | Musik: Lalo Schiffrin | Darsteller: Robert Vaughn, Elke Sommer, Boris Karloff, Karlheinz Böhm, Felicia Farr, Luciana Paluzzi, Ed Asner u.a. | Laufzeit: 92 min.