Richard Linklater (*1960) schwelgt für einmal scheinbar in Nostalgie, indem er eine Bubenkindheit in den USA der sechziger Jahre nicht nur porträtiert, sondern geradezu verklärt. Doch Verklärung besitzt in APOLLO 10 1/2 eine ganz andere Tiefe als üblich. Das beginnt schon damit, dass er den Film mit Schauspielern verfremdet, indem er das Prinzip der Rotoskopie verwendet. Die real gefilmten Bewegtbilder werden so verfremdet, dass daraus ein Animationsfilm entsteht. Dieses Prinzip hat Linklater bereits zweimal angewendet (in WAKING LIFE, 2001 und A SCANNER DARKLY, 2006). Die Nähe zum „realistischen“ Bild bei gleichzeitiger Vercomicfizierung eröffnet eine Wahrnehmung zwischen Traum und Wirklichkeit, einen Bereich zwischen subjektiver Wahrnehmung und der objektiven Welt. Den Bereich der Verklärung.
Stanley ist ein Mann in den Fünfzigern, der zurück schaut auf seine Kindheit und das außerordentliche Erlebnis, das sie ihm bescherte. Er wächst in den sechziger Jahren in den Suburbs von Houston/Texas auf (wie der Regisseur selber, geboren 1960, der ja bereits in DAZED AND CONFUSED eine texanische Highschool-Geschichte aus den frühen Siebzigern erzählte). Houston war damals nebst Baikonur das Zentrum der weltweiten Raumfahrt, in einer historischen Phase weltweiter Weltraumbegeisterung, und die Stadt war geprägt vom großen Narrativ des technologischen Fortschritts – und technologischer Fortschritt war synonym mit Weltraumfahrt. Der Mond musste es sein, stand da doch Kennedys Diktum, bis zum Ende der Sixties müssten Amerikaner einen Fuß auf den Erdtrabanten gesetzt haben.
Doch da passiert ein „kleiner“ Fehler: Die NASA hat die erste Mondlandekapsel ein wenig zu klein gebaut, so dass der erste Mondflug mit einem Jungen stattfinden muss. Ein nicht zu großer Junge muss her. So wird der Flug mit Bub zur Generalprobe, damit die erste offizielle, weltweit ausgestrahlte Mondlandung mit Neil Armstrong, Buzz Aldrin und Michael Collins später souverän über die Bühne gehen kann. Und Stanley erweist sich als sportlicher, talentierter, intelligenter Junge prädestiniert für den ersten Mondflug.
Mitten in seinem Astronautentraining, wenn Stanley sich an einem Aerotrim-Gerät (das Gerät, bei dem man in alle Richtungen gedreht wird: man könnte auch Space Rotor (sic!) dazu sagen) gerade übergibt, stoppt der Film und Linklater breitet vor uns eine Teenagerjugend im Houston der Sixties aus. In voller Breite. Was die Jungs und Mädchen so spielen, die TV-Sendungen, die sie sehen, die Cornflakes-Brands, die sie bevorzugen. Dabei ist alles geprägt von der Weltraumeuphorie Houstons, am schönsten sichtbar im Freizeitpark, der – passend – Astropark heisst. Hin und wieder ein paar Störeffekte, die auf die politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen weit weg außerhalb der Suburbs hinweist. Ist der Typ am Straßenrand nun einer von diesen Hippies? Irgendwie noch cool, meint die ältere Schwester. Ebenso wird der Kampf um Bürgerrechte der Schwarzen zum Thema, doch auch der wird nur gestreift – gesellschaftspolitisch befinden sich Houstons Vorstädte an den Rändern der Geschichte.
Natürlich darf niemand etwas von Stanleys Mondmission erfahren. Die NASA-Männer zeigen ihm fingierte Fotos von ihm, die ihm als Alibi für die Zeit seines „Stipendiums an einer anderen Schule“ dienen. Interessant ist das für die Vergangenheitsver- und erklärung. Denn kurz darauf wird erwähnt, dass Stanleys Eltern nach seinen vier Geschwistern keine große Lust mehr verspürten, vom kleinen Stanley überhaupt noch Fotos zu schießen. Was dazu führte, dass seine älteren Brüder und Schwestern ihn ständig damit aufzogen, dass er in Wirklichkeit ein Adoptivkind sei. Hier zeigt sich, dass Linklaters Verklärung eine Analyse dessen ist: Fotos sind sekundäre Verarbeitungsformen eines Lebens, die der Interpretation des Lebens eine Richtung geben. Fotos werden zu Vergangenheit und Wahrheit. Selbst die Mondlandung basierte auf von CBS bearbeitetem Originalmaterial.
Nebst diesen verschiedenen Subjektivitäten, die sich durch Stanleys Realität ziehen, gibt‘s auch die ganz große: Ist Stanleys Erlebnis an Bord der Apollo 10 1/2 nicht einfach nur ein Traum? Der übermächtige Traum, der zur Folge hat, dass er die reale Mondlandung am Fernsehgerät verschläft?
Linklaters liebevoller Jugendfilm APOLLO 10 1/2 zeigt uns die Konstruktion der Menschen als Trugbilder ihrer selbst. Was wir von uns denken, ist demjenigen, wie wir sind, höchstens ähnlich. Wir sind ein Rotoskopiebild dessen, wer wir wirklich sind.
Apollo 10 1/2: A Space Age Childhood
USA 2022
Regie u. Drehbuch: Richard Linklater
Kamera: Shane F. Kelly | Darsteller: Zachary Levi, Glen Powell, Jack Black, Josh Wiggins, Lee Eddy
Laufzeit: 97 min.