Die große Schweinerei.

Der klaffende Widerspruch zwischen unendlicher Tierliebe und gigantischem Fleischkonsum ist eines der unangenehmsten Paradoxe unserer Gesellschaft. Und auch für diese Widersprüchlichkeiten findet Bong Joon-Ho eine wundervoll einfache Metapher, um uns deshalb das Wasser im Mund erstarren zu lassen. Die kleinen mutierten Schweinchen, die in alle Orte der Welt verteilt werden und nach 10 Jahren glücklicher Aufzucht auf ländlichen Bauernhöfen schließlich als gigantische Riesenschweine in den USA geschlachtet werden sollen, revolutionieren nach Ansicht von Konzernchefin Lucy Mirando (Tilda Swinton) die Fleischindustrie zum Besseren. Die elefantengroßen Schweine machen die Schlachtung „sauberer“ und sind zugleich effizienter. An den Schlächtern klebe weniger Blut. Wie das im Kapitalismus dann aber so ist: So ganz sauber agiert die Mirando Corporation dabei nicht. Dass hinter den Riesenschweinen auch Genmanipulation steckt, soll vertuscht werden.

Von den 26 „Prototyp“-Ferkeln, die in aller Welt auf der Suche nach der besten Schweinehaltung verteilt werden, erhält Okja, das Riesensäulein eines südkoreanischen Bergbauern und seiner Tocher Mija (Ahn Seo-hyeon) die allerbesten Noten eines Spezialistenteams. Riesenschwein Okja ist – wie alle Schweine – ein empfindsames Wesen und längst Best Friends mit Mija, als es von dem Team ins koreanische Hauptquartier in Seoul eingezogen wird, um danach in New York als Siegerin auf einer Parade der Riesenschweine präsentiert zu werden und schließlich im Schlachthof zu landen.

Mija lässt sich derweil nicht mit einem Geschenk abspeisen, einem kleinen Schwein aus Gold. Der emotionale Bezug zu ihrer Tierfreundin ist zu groß. Sie verfolgt Okja nach Seoul und stolpert dabei über die radikalen Exponenten einer Tierbefreiungsbewegung, die anfänglich das Gleiche im Sinn haben: Okja zu befreien. In einer halsbrecherischen Aktion zu Stierkampfmusik gelingt ihnen die Flucht mit Okja. Und nach der Abwehr von Betäubungspatronen mit Schirmen und anderem sympathischem Klamauk begeht die Animal Liberation Front den Kardinalsfehler, der sie in den Augen tierliebender Zuschauer auch nicht mehr ganz sauber macht. Sie stellen das Politische über das Tierwohl. Oder genauer: ihr Übersetzer tut das. Obwohl Mija ihm sagt, sie wolle, dass „Okja zurück in die Berge“ komme, gibt er dem Team weiter, dass sie einverstanden wäre, Okja eine Kamera zu verpflanzen und sie in das Schlachthaus der Hölle in die USA zu schicken. Um Aufklärung zu betreiben. Genauso wie gewisse amateurhafte, schusslige Handlungen bleibt auch dieser moralische Fehlentscheid in der Folge an der Animal Liberation Front haften, obwohl sie sich durchaus aufrappeln und die Tat des Übersetzers verurteilen.

In New York angekommen, prallen vor dem großen Riesenschweineumzug erst mal zwei ganz andere Welten zusammen. Konzernchefin Lucy Mirando fühlt sich nämlich innerlich dazu gedrängt, sich von ihrer Schwester und ihrem Vater zu distanzieren. Die beiden seien Psychopathen, die einen psychopathologischen Kapitalismus betreiben, der Seen mit Napalm vergiftet und vieles mehr. Als sie aber nachts von ihrer Schwester Nancy angerufen wird, wird sie wieder ganz klein vor der großen, bösen Kapitalistin. Mit der Vater-Schwester-Psychose verweist Bong Joon-ho auf den aktuell sich zuspitzenden Kampf zwischen einem „guten“, weil nachhaltigen Kapitalismus und einem „bösen“ Kapitalismus (Waffen, fossile Brennstoffe). Sein Film zeigt, dass der gute Kapitalismus auch nicht ganz so gut ist, aber: Ihm gehört die Sympathie der medialen Welt. Lucy hat zwar Angst vor dem Medienecho, dass ihre Corporation Mija „misshandelt“ habe, indem man ihr Okja wegnahm. Aber die Botschaft kann gedreht werden. Ein schwarzer Berater (Diversität) hilft Lucy auf die PR-Sprünge: Mija sei „jung, weiblich, hübsch, umweltfreundlich und global“ (positives Image). Sie soll von nun an nicht mehr verfolgt werden, sondern umarmt und als Aushängeschild vor die Firma gespannt werden. If you can’t beat them, join them. Was sich dann zusammenbraut an einem Finale, soll hier nicht verraten werden. Das Ende ist zynisch, der böse Kapitalismus ist verdammt stark, Mija wird zu „Lucys kleinem Bauerntrampel“ und Mijas kleines Goldschweinchen bekommt noch Sinn. Im Kleinen.

OKJA ist nicht nur die Vegetarierkomödie, die man erwartet, sondern führt – ganz dem Genie des Regisseurs entsprechend – weiter zu einer umfassenderen Gesellschaftsschau. Der skrupellose böse Kapitalismus trifft auf den disruptiven Gutsein-Wollenden Kapitalismus, die gnadenlos-brutale Fleischindustrie auf die aktionistische Tierschützer-Guerilla, das ehrlich-naive Mädchen vom Land auf die skrupellose PR-Maschinerie der Großkonzerne, unsere Liebe zum Tier auf unsere Massentierhaltung und -schlachtung. Wem das alles zu holzschnittartig vorkommt: ja, es ist auch holzschnittartig. Und durchgeknallt. Aber auch mit Herz und Wärme. Und wilden Actionszenen. So, wie das halt nur asiatische Filme können.

Okja
USA/Südkorea 2017
Regie: Bong Joon-ho
Drehbuch: Bong Joon-ho, Jon Ronson
Kamera: Darius Khondji
Schnitt: Yang Jin-mo
Darsteller: Ahn Seo-hyeon, Tilda Swinton, Jake Gyllenhaal, Paul Dano, Steven Yeun, Lily Collins u.a.
Laufzeit: 121 Minuten

Anbieter:

Netflix