SÜDKOREA
Das südkoreanische (Genre-) Kino verwöhnt uns seit inzwischen etwas mehr als 20 Jahren mit so vielen großartigen Filmen, dass ich etwas „picky“ werde:
CONFESSION (Yoon Jong-seok) lässt sich schnell abhaken, denn der gewiefte Suspense-Thriller ist nur das koreanische Remake von DER UNSICHTBARE GAST, den man dann doch lieber als spanisches Original (2016) gucken sollte (gibt es inzwischen billig auf DVD und Blu-ray).
Ebenfalls ein Remake und ebenfalls eigentlich überflüssig: das Thrillerdrama HOSTAGE: MISSING CELEBRITY (Pit Gam-sung), in dem Hwang Jung-min, Südkoreas größter lebender Filmstar, sich selbst spielt. Er wird von drei miesen Typen entführt und irgendwo in einem Wäldchen festgehalten. Was wollen die Typen? Und kann Hwang Jung-min entkommen? Immerhin ist er hier nicht ganz alleine… Die Idee ist geklaut, an sich nicht übel, trotzdem funktioniert sie nicht. War SAVING MR. WU (VR China 2015) mit Andy Lau wirklich soviel anders? Ich denke, der Unterschied liegt in den unterschiedlichen Personae der Darsteller begründet: Andy Lau, die lebende Hongkong-Legende, ist seit Jahren sein eigenes Kunstprodukt, ein geradezu unantastbarer Asia-Metastar. Daß er angegriffen werden könnte, kommt einem Schock gleich… Hwang Jung-min ist völlig anders: ein bodenständiger Frechdachs, der sich in seinen Filmen stets zu wehren weiß. Daß er auch hier obsiegt, ist gar keine Frage.
Den rasanten, geschliffenen, wunderbar auf den (Flucht-) Punkt geschnittenen Actionkrimi SPECIAL DELIVERY (Park Dae-min) über eine knallharte Kurierfahrerin haben wir bereits auf dem Fantasy Filmfest gesehen, außerdem schreckt mich ein bisschen, selbst blutige Exzesse als Feelgood-Movie serviert zu kriegen (und das Happy-End ist natürlich eine glatte Lüge).
Auch die an sich ehrenwerte Doku KIM JOONG-BOON OF WANGSHIMNI (Kim Jin-yeoul) über eine alte Frau, die seit 50 Jahren Gemüse und Reiskuchen auf der Straße verkauft, überzeugt mich nicht wirklich. Die tragische Geschichte der berühmten Tochter ist viel interessanter: Studentin Kim Gui-jeong, Aktivistin der Demokratiebewegung, starb am 25.5.1991 durch Polizeigewalt…
Etwas für Queers und alle, die es nicht sind: In der tragikomischen Beinahe-Komödie PERHAPS LOVE (Cho Eun-ji) wollen ein ausgelaugter 50-jähriger Schriftsteller und ein halb so alter Student ein gemeinsames Werk verfassen. Allerdings ist das junge Talent nicht nur schwul, sondern ernsthaft in seinen Kollegen verliebt… Trotz homophobem Slapstick ein durchaus warmherziger Brückenbauer für eingefleischte Heteros mit Berührungsängsten.
Nur Action-Durchschnitt, aber immer noch ordentlich: THE KILLER (Choi Jae-hoon), der auch THE BABYSITTER hätte heißen können: Ein Auftragskiller, der sich zur Ruhe setzen will, soll auf eine 17-Jährige und deren beste Freundin aufpassen. Natürlich sind beide plötzlich weg… Möglicherweise realer Hintergrund sind perverse Deals einer koreanisch-russischen Sexmafia. Ob die flotten Jungs, die in einer Poolszene auftauchen, ebenfalls zur „Ware“ zählen, bleibt offen.
Das Kriminaldrama bzw. Elendspanorama THUNDERBIRD (Lee Jae-won) erzählt die Geschichte einer Nacht bis zum nächsten Abend, Silvester! Kim Tae-min hat im Casino 50 Millionen Won gewonnen. Aber er ist nicht der Schlaueste, und Ganoven lauern überall… Das hätte ein Thriller werden können, erinnert aber eher an ein Drama von Dostojewski. Statt mit einem Knalleffekt zu enden, implodiert THUNDERBIRD geradezu. So sitzt der Film zwischen allen Stühlen, ist weder was für Genrefans noch fürs Arthaus-Publikum.
Ebenfalls etwas ausbaufähig, aber vielversprechend ist das Gangsterdrama TOMB OF THE RIVER (Yoon Young-bin): 2017 in Gangneung, einem der Austragungsorte der Olympischen Winterspiele 2018, kriegen sich Nadelstreifen-Gangster und korrupte Polizisten in die Wolle um ein Luxusdomizil. Das große Sterben beginnt… Hat nicht ganz das Niveau der großen südkoreanischen Crime Epics, aber der Regiseur und sein Produzent (beide in Udine anwesend) sind noch jung und werden sicherlich weiter von sich reden machen.
Wo es um die Aufarbeitung der eigenen Geschichte geht, ist das Kino Südkoreas stets überragend. Das gilt auch für KINGMAKER (Byun Sung-hyun), ein Polit- und Moraldrama nach wahren Ereignissen und Personen in den 60er und 70er Jahren, als Südkorea noch eine Diktatur war. Die zentrale Frage: Ist es okay, etwas Falsches zu tun, wenn es dem Sieg der Wahrheit hilft? Ein rhetorisch begabter Apotheker (PARASITE-Star Lee Sun-kyun) will die Welt verändern und heuert bei den bislang unterlegenen Demokraten an, um die verhassten Republikaner um den schon sicher gewähnten Wahlsieg zu bringen. Als kluger Psychologe und genialer Intrigant zieht er im Hintergrund die Fäden. Doch dann will er selbst ins Licht der Politbühne… Alle Namen wurden geändert, denn die tragische Historie Südkoreas ist noch immer eine offene Wunde. Trotzdem ein spannender, zeitlos gültiger Beitrag zum Thema Manipulation und Politik.
Auch Rabenmütter haben‘s schwer! Und zwar im Psychodrama THE APARTMENT WITH TWO WOMEN (Kim Se-in): Yi-jung ist schon Ende 20, wohnt aber immer noch bei ihrer Mutter Su-kyung, und das, obwohl sich beide ständig an die Gurgel gehen. Als Su-kyung ihre Tochter sogar mit dem Auto anfährt, eskaliert die Situation… Ein männlicher Regisseur hätte aus dem Mutter-Tochter-Krieg vielleicht einen herrlich krassen Horrorschocker gebastelt, Südkoreaner kriegen das bekanntlich toll hin. Regisseurin und Drehbuchautorin Kim Se-in hingegen zeigt für beide Seiten Verständnis – auch für die Rabenmutter. Leider überzieht sie dabei, ihr Film ist gut, aber zu lang.
Applaus, Applaus! MIRACLES: LETTERS TO THE PRESIDENT (Lee Jang-hoo), ein Familienmelodram nach wahrem Fall, hat einen Publikumspreis gewonnen, alle sind verzückt! Plot: Ein Provinznest in Südkorea, 1986. Schüler Joon Kyung braucht jeden Tag zwei Stunden bis zur Schule, und zwei wieder zurück: Sein Heimatort zwischen Bergen und Brücken wird von der Bahn nicht bedient. 54 Briefe hat er schon an den Präsidenten geschrieben, damit endlich ein Bahnhof gebaut wird, aber nichts ist passiert. Weil viele Leute heimlich auf den Gleisen gehen, kommen immer wieder welche zu Tode – auch in der Familie von Joon Kyung… Südkorea-Entertainment vom wirklich Allerfeinsten: bis ins Kleinste durchdacht, noch am Ende mit mehreren Twists, die die Geschichte mehr als rund machen. Wie Hollywood zu seinen Glanzzeiten, nur eben aus Asien. Und doch bleibt das schale Gefühl, ganz tief im Schmalztopf gelandet zu sein. Wenn am Ende der legendäre Filmsong „Dreams Are My Reality“ aus dem französischen Teenklassiker LA BOUM – DIE FETE erklingt, bleibt echt kein Auge trocken.
Schließlich doch noch der wahre Korea-Knaller: der Politthriller ESCAPE FROM MOGADISHU (Ryoo Seung-wan) nach wahren Ereignissen. Mogadischu, 1990/1991: Während Nordkorea schon seit 20 Jahren eine Botschaft in Somalias Hauptstadt unterhält, bemühen sich die Südkoreaner erst jetzt um einen Kontakt zur Regierung. Doch plötzlich greifen Rebellen nach der Macht, ein Bürgerkrieg bricht los, und wer nicht schnell den nächsten Flieger kriegt, riskiert sein Leben. In der Not und gegen heftige Bedenken überwinden Süd- und Nordkoreaner ihre Systemfeindschaft und bemühen ihre unterschiedlichen Kontakte, um gemeinsam zu fliehen… Ein gnadenlos guter Politthriller, zugleich warmherziges Wunschkino für ein geeintes Korea. Die Flucht in den mit Büchern und Brettern „gepanzerten“ Autos dürfte zu den aufregendsten Actionszenen des Jahres zählen. Sofort kaufen, wenn DVD oder Blu-ray erscheinen!
THAILAND
Thailändische Horrorfilme sind mit die besten. CRACKED (Surapong Ploensang) verfehlt die Empfehlung nur knapp: Die junge Ruja, Mutter der fast blinden Rachel, erbt die prächtige Dschungelvilla ihres toten Künstler-Vaters. Er hinterläßt zwei große Gemälde von nackten Models. Aber irgend etwas stimmt da nicht. Hinter Rissen und abgeplatzter Farbe steckt eine verborgene zweite Ebene… Wow, alle 45 Sekunden ein neuer Schock, eine weitere Enthüllung oder noch ein Horrorfilmzitat. Die Überfülle und Atemlosigkeit läßt die Schuld-und-Rache-Tragödie zur billigen Geisterbahnfahrt verkommen.
Krebs im Endstadium und köstliche Cocktails, dazu singt Frank Sinatra den Titelsong – nie war ein Roadmovie edler als ONE FOR THE ROAD (Baz Poonpiriya)! Ein letzter Liebesdienst unter alten Freunden: Strahlemann Boss soll den sterbenskranken Aood durchs ganze Land zu dessen früheren Geliebten fahren, damit alle Abschied voneinander nehmen können. Doch halt, was war das für ein böser Streit, damals in New York? – Wow, hier ist alles ganz besonders, mega, überirdisch! Kein Wunder, wenn Hongkong-Kultregisseur Wong Kar-wei (IN THE MOOD FOR LOVE) der Produzent ist. Er hat seinen thailändischen Kollegen Baz Poonpiriya zu Höchstleistungen angetrieben, sein Film ist purer Glamour in atemberaubendem Cinemascope. Ziemliches Angeberkino eigentlich, doch der schicke Schein ist stets nur Fassade: Jede Erfolgsstory hat ihre böse Schattenseite, und genau das macht den traurig-schönen Film letztlich sehenswert.
TAIWAN
Eine Delikatesse für Connaisseure: Aus der ersten Hochphase des Wuxia-Genres stammt THE SWORDSMAN OF ALL SWORDSMEN (1968), der einst in deutschen Bahnhofskinos DER FÜNFARMIGE TIGER hieß. Regisseur Joseph Kuo (18 KÄMPFER AUS BRONZE) drehte sein melancholisch-poetisches Actionstück für die Firma Union Film des berühmten King Hu (A TOUCH OF ZEN) und variierte damit den Steve-McQueen-Western NEVADA SMITH (1966). Die handelsübliche Story vom Mann, der seine Eltern rächen will, die einst von einer üblen Bande massakriert wurden, endet mit einem furiosen Duell bei strahlender Sonne am Ufer des brandenden Meeres – einfach unvergesslich…
MALAYSIA
Wer zuerst weiß, welcher bahnbrechende Hollywood-Hit hier verwurstet wird, hat gewonnen! Der Neo-Noir-B-Film-Actionthriller im dunkelbunten Kuala Lumpur THE ASSISTANT (Adrian The) ist ganz schön dreist, macht aber Laune: Als Zafik nach zehn Jahren aus dem Knast kommt, hat er alles verloren und will nur noch weinen. Aber dank seines neuen Freunds Feroz, der smart ist und ein echter Killer, kann er sich an jenen rächen, die sein Leben verpfuschten… Mehr als eine Kopie: Wo das Vorbild den einen Megatwist hatte, knallt THE ASSISTANT völlig durch, es wird bizarr und surreal.
PHILIPPINEN
Die Philippinen ganz zum Schluss, weil mich die beiden folgenden Beiträge ganz besonders gefreut haben… Eine impertinente Bettlerin, ein Höhlenbewohner, eine quicklebendige Komapatientin und eine skrupellose Internet-Köchin sind die „Stars“ der rabenschwarzen Horrorsatire RABID. Der namhafte Regisseur Erik Matti (das Festival zeigte auch sein überragendes Crime Epos ON THE JOB: THE MISSING 8) hat vier Episoden aus dem Ärmel geschüttelt, die sich um ganz alltägliche Ängste ranken: Armut, Corona, böse Mitmenschen, körperlicher Verfall, falscher Social-Media-Ruhm u.v.m. Ein gesellschaftspolitischer Spaßschocker, in dem sich jede/r wiederfinden kann.
Zuguterletzt die Fantasy-Familiendramödie LEONOR WILL NEVER DIE (Martika Ramirez Escobar): Die alte Leonor, die früher Drehbücher fürs Kino geschrieben hat, kriegt einen Fernseher (!) an den Kopf, fällt in eine Art Koma – und findet sich im Skript ihres letzten Actionfilms wieder, wo ihr geliebter toter Sohn Ronwaldo zum strahlenden Helden wird. Leonor kennt jede Zeile, die sind ja alle von ihr, doch so bleibt es nicht…
Für mich der herzlichste, witzigste, überraschendste, beste Film des Festivals: Regisseurin Martika Ramirez Escobar verbeugt sich mit ihrer wunderbaren Hauptdarstellerin Sheila Francisco vor Macht und Magie des Kinos, parodiert die tumben philippinischen Machokracher der 70er und 80er Jahre – und mit der Figur des unfähigen Bürgermeisters mokiert sie sich ganz nebenbei über den vormaligen Staatspräsidenten Duterte. Der Film hätte wirklich einen Preis verdient gehabt, ging aber leider leer aus.
Ich freu mich trotzdem schon aufs nächste Jahr!
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Foto von Martika Ramirez Escobar und Sheila Francisco: Peter Clasen