In den frühen 70er Jahren eroberten die japanischen ‚Monsterheuler‘, wie wir sie damals nannten, die Jugendvorstellungen. Neben aktuellen und wiederaufgeführten Produktionen der Godzilla- und Gamera-Reihen erlebten dabei auch Filme ihre deutsche Erstaufführung, deren Entstehung zum Teil schon über ein Jahrzehnt zurücklag und mit denen auch kleinere Verleiher versuchten, sich ihren Anteil an dem kurzzeitig lukrativen Asia-Scifi-Markt zu sichern. Manche kamen über die USA ins Land, hatten dort drastische Veränderungen und Umetikettierungen erfahren, die einen heute staunen lassen.
Heute verbietet der Megakonzern Toho bei Linzenzierung eines seiner klassischen Titel jede inhaltliche oder strukturelle Veränderung; als Filmtitel sind nur noch wörtliche Übersetzungen der Originaltitel erlaubt, für Synchronisationen nur noch wörtliche Übertragungen der Original-Dialoge. Man kann das verstehen, wenn man sich ansieht, was seinerzeit oft mit japanischen Filmen veranstaltet wurde. Ishiro Hondas YOSEI GORASU von 1962 ist sicher ein Extrembeispiel. Verschnitten und umsychronisiert und mit fiktiven englisch klingenden Stabs- und Darstellerangaben versehen, erschien der Film in den USA als GORATH in verschiedenen Versionen, in Deutschland erst 1975 als UFOS ZERSTÖREN DIE ERDE . Komplette Passagen waren umarrangiert oder mehrfach und an den falschen Stellen einmontiert; vor allem in den Weltraumsequenzen fanden sich Szenen, die eigentlich an Bord zweier verschiedener Raumschiffe mit verschiedenen Crews spielten, zusammenmontiert wieder. Dafür fehlten verschiedene Teile, die sich mit den privaten Beziehungen der Figuren beschäftigten oder – für Honda- und Kaiju-Eiga-Fans sicher der frechste Eingriff – den Auftritt eines aus dem ewigen Eis der Antarktis befreiten, urzeitlichen Riesenwalrosses zeigten. Vorangestellt wurde ein in der deutschen Fassung besonders monoton klingender Off-Kommentar im Stil einer Planetariums-Vorführung – in diesem zumindest ist kurz von den titelgebenden UFOs die Rede, die im Film sonst freilich nicht vorkommen.
„Gorath“ indes ist ein wandernder Planet mit der Masse und Aktivität einer Sonne auf Kollisionskurs zur Erde. Um den ansonsten unausweichlichen Weltuntergang abzuwenden, entschließt man sich zu einem Makroprojekt ohnegleichen: Riesige Nuklear-Triebwerke, die am Südpol errichtet werden, sollen die Erde aus ihrer Umlaufbahn und aus der Gefahrenzone weg bewegen. Das vor dem Revival der Godzilla-Reihe entstandene Doomsday-Epos zeigt die japanische Science-Fiction-Traumfabrik in ihrer Blütephase – aufwendige Bauten, megalomane Special-Effects-Sequenzen und ein All-Star-Cast der aus den Toho-Genrefilmen bekannten Darsteller wurden vereint. Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges schuf man ein eindringliches Plädoyer für die Verständigung und Zusammenarbeit der Völker, ohne die das Überleben der Menschheit nicht möglich wäre. Früher habe es Weiße, Schwarze und Asiaten gegeben, sinniert Dr. Tazawa im Film, heute gebe es nur noch die vereinte Menschheit unter dem Banner der UNO.
GORATH spielt in der Zukunft der 1980er Jahre, spiegelt aber auf faszinierende Weise ein japanisches Selbstbild der frühen 60er wider: Die Nöte der Nachkriegszeit sind überwunden, die Nation ist im industriellen und wissenschaftlichen Aufschwung, steht selbstbewusst zwischen Öffnung und Tradition – das Straßenbild dominieren amerikanische Straßenkreuzer, die Astronauten, die den Heldentod der Kamikaze sterben (als ihr Raumschiff rettungslos auf den Todesplaneten zustürzt, schreien sie gemeinsam ein letztes „Banzai!“), sehen sich als Kämpfer im Geist der Samurai und die Rettung der ganzen Welt wäre ohne japanische Technik und japanisches Know-How gar nicht möglich. Takeshi Kimura, neben Shinichi Sekizawa der vornehmliche Autor der Honda-Filme, ließ die Menschheit schon im unmittelbar vorangegangenen SEKAI DAI SENSO (THE LAST WAR) dem Weltuntergang entgegen sehen – während sie dort im ausweglosen Atomtod vergeht, erlaubt er sich hier einen Hoffnungsschimmer. Besonders interessant wird die Geschichte, die er hier anhand eines schon klassischen Topos der Science Fiction erzählt, wenn man sie etwa mit dem ähnlich gelagerten WHEN WORLDS COLLIDE (1951) vergleicht: Dort soll der Bau einer modernen „Arche Noah“ einer kleinen Gruppe von Menschen die Flucht von der dem Untergang geweihten Erde ermöglichen, die dezidiert nach Elitekriterien ausgewählt wird. Im zugrunde liegenden Roman von Philip Wylie und Edwin Balmer aus den 30ern ist die darwinistische Ideologie noch präsenter – nur die Klügsten und Gesündesten haben ein Anrecht auf einen Platz in der Arche. In GORATH sollen alle überleben oder keiner – das „Raumschiff Erde“ wird zur Arche, in der jeder seine Verantwortung gegenüber allen anderen trägt. Was wie Takeshi Kimuras optimistischste Geschichte klingt, ist ein verzweifeltes Wunschbild aus einer Zeit, die in der Kuba-Krise gipfelte und im Moskauer Abkommen zu einem vorläufigen friedlichen Ende fand. Das macht diesen Film nicht nur zu einem der sympathischsten seiner Gattung, sondern ihn auch aktueller denn je.
Die Schnittgeschichte von GORATH erklärt auch die Schwierigkeiten, die sich bei der Erstellung einer integralen deutschen Fassung ergeben haben müssen. Die deutsche Synchronisation von 1975 musste an den originalen Cut angelegt werden, obwohl sich dadurch teils erhebliche inhaltliche Diskrepanzen zwischen Ton und Film einstellen und an manchen Stellen deutliche Stückelarbeit geleistet werden musste. Das Ergebnis kann sich natürlich, wie immer bei Anolis, mit großen Augen bestaunen lassen. Die Qualität der Blu-ray, die sowohl die integrale als auch die alte deutsche Kinofassung enthält, ist bei beiden Kopien atemberaubend schön. Zum Bonusmaterial zählt u.a. ein hörenswerter Audiokommentar der Toho-Experten Ingo Strecker und Jörg Jedner.
Yosei Gorasu
Japan 1962
Regie: Inoshiro Honda
Drehbuch: Takeshi Kimura
Kamera: Hajime Koizumi
Darsteller: Ryo Ikebe, Kumi Mizuno, Akira Kubo, Yumi Shirakawa, Akihiko Hirata, Takeshi Shimura, Jun Tazaki u.v.a.
Laufzeit: 88 Min.