NICHOLAS NICKLEBY, entstanden nach Charles Dickens, der nicht nur zu den bedeutendsten britischen Schriftstellern gezählt werden darf, sondern dessen Werke in der Kinogeschichte auch oftmals Anlass für Verfilmungen boten. Neben der genauen Portraitierung eines Englands des ausgehenden 19. Jahrhunderts – einer Zeit, in der die Grenzen zwischen bitterer Armut und ausuferndem Luxus schon genauso wenig durchlässig erschienen wie heutzutage – behandelt Dickens die ihm eigenen Themen mit hoher Präzision und exakter Beschreibungsgabe. Dankenswerterweise überträgt Regisseur Douglas McGrath diesen Geist ohne großes Pathos und gedrechselte Duselei in seinen Film. Kernfragen werden gestellt und durch das entsprechende Handeln beantwortet, es bedarf nicht vieler Worte: wie werde ich in einer Welt, die bereits von schlechten Menschen und dauerhafter Unmoral geprägt ist, nicht selbst zu einem solchen Wesen, sondern entwickle meine eigene, gute Persönlichkeit?
Freundschaft und Familie. Eine heiter-lebensfrohe Schauspielertruppe – fahrendes Volk – verhelfen auf ihrem abgezirkelten „Lebensraum Bühne“ den beiden Suchenden Nicholas und Smike zu einer wunderlich-wunderbaren Wiedergeburt. Sie alle sind auf ihre eigene Weise Ausgestoßene der so genannten ‚Normalität‘, doch aus dieser Übereinkunft der Zusammengehörigkeit entwickeln sie eine umso größere Selbstvergewisserungskraft. Nicholas findet in dieser „Familie“, die er sich selbst wählt, eine Mischung aus Individuen am sogenannten Rande der Gesellschaft – doch den zutiefst menschlichen, mitfühlenden Kern eines jedes erkennt er. Menschlichkeit ist und bleibt über die allzu formellen Familientraditionen hinweg der eigentliche Knackpunkt allen Zusammenlebens. Ein Jeder ist täglich selbst auf der Bühne des Lebens lautet die Maxime.
Auch das Mitleid, dass Nicholas im Laufe seines Lebensweges ‚lernt‘, zeugt von der klaren Suche nach humanistischen Grundfesten. Ein grauenvolles Internat am gefühlten Ende der Welt, voller Drangsal für die Jungens und peinigendem Sadismus durch das Lehrpersonal, zeigt auf, wozu der Verlust dieser menschlichen Pfeiler führen kann – dass bereits Dickens‘ Vorlage hier eine frühe Kritik am Bildungssystem anbrachte, zeugt von Weitsicht. Schließlich ist es ein simpler Gedanke, den auch der Film zuweilen ausformuliert: Erhalten Sie sich ihr gutes Herz.
Dass Dickens‘ Dialoge den DarstellerInnen sprichwörtlich gut über die Lippen gehen, ist augenscheinlich. Christopher Plummer, der mit kaltlächelnder Eleganz einen skrupellosen und intriganten Dämon zum Besten gibt, der die Würde der Familie seines Bruders zunächst regelrecht verschachert und schließlich gar in blankem Hass gegen Nicholas und dessen Glück zu Felde zieht, zeigt sein erprobtes Können. Auch ein herrlich selbstironisches Auftreten von Dame Edna (Barry Humphries) zeugt vom stillen Sinn für britischen Humor, der so weltberühmt wie gefürchtet seit Jahrzehnten fasziniert und unterhält.
Insgesamt baut NICHOLAS NICKLEBY ein skurriles Figurenkabinett auf und erhebt speziell in der ersten Hälfte die starke Kontrastierung des ländlich-aufgeräumten, idyllischen Landlebens mit dem babylonischen Sündenmoloch London zum Prinzip. Die opulente Ausstattung jedweden Umfeldes und eine abwechslungsreiche Kameraarbeit von Dick Pope – der seine lange und oscarnominierte Filmographie übrigens mit schrägen Video Nasties wie SAMEN DES BÖSEN (1981) begann – zeigen, mit welcher Liebe zum Detail die Crew am Werk ist. Komponistin Rachel Portman, die den hier geknüpften musikalischen Faden bezeichnenderweise in der 2005 unter der Regie von Roman Polański entstandenen Dickens-Verfilmung OLIVER TWIST weiterspinnen sollte, liefert eine stimmige und auf simple Gefühlserzeugungen verzichtende Musik, die in ihrem Bekenntnis zum handgemachten Orchestersound eine rühmliche Ausnahme im heutigen Hollywoodbetrieb darstellt.
Vor einiger Zeit erschien NICHOLAS NICKLEBY als Kombiformatrelease im gutaussehenden Mediabook, wobei neben der vorzuziehenden Blu-ray auch eine DVD enthalten ist. Der Filmtransfer in Cinemascope überträgt das überlegte Farb- und Lichtkonzept des Regisseurs hervorragend auf heimische Bildschirme, zeigt sich scharf und mit ausgezeichneten Kontrastwerten. Neben der deutschen Synchronisation – deren Star natürlich der unvergleichliche Christian Rode auf Christopher Plummer ist, deren restliche Besetzung mit jahrzehntelangen Größen wie Hartmut Neugebauer, Mogens von Gadow, Peer Augustinski, Hildegard Krekel, Fred Maire und Lutz Mackensy sich jedoch insgesamt hören lassen kann – ist der englische Originalton enthalten, der mit seinen dick aufgetragenen Akzenten für das Ensemble einiges Sprachcoaching erforderte.
Als zusätzliche Features ist mit „Entstehung eines Klassikers: Das Making-of von Nicholas Nickleby“ eine knapp halbstündige Dokumentation zu finden, in der neben den Produzenten und dem Regisseur vielen der SchauspielerInnen zu Wort kommen und – bei allem verständlichen ‚Klappern‘, dass zum Handwerk gehört – beredt Auskunft über die Projektentwicklung und Charaktergestaltung geben. In „Die Besetzung über die Besetzung“ äußern sich DarstellerInnen in Interviews über ihre jeweiligen Rollen, eine weitere Featurette mit Blick auf das Set aus verschiedenen Kameraperspektiven beleuchtet den Entstehungsprozess großer Plansequenzen. Ein achtseitiges Booklet und der US-Kinotrailer beschließen die Boni.
Nicholas Nickleby
USA 2002
Regie: Douglas McGrath
Darsteller: Charlie Hunnam, Romola Garai, Christopher Plummer, Anne Hathaway, Edward Fox, Tom Courtenay u.a.